Recht, Steuer & IT
25. Juli 2012

In Sachen Lehman

Der Untergang von Lehman Brothers beschäftigt auch vier Jahre nach dem GAU die Gemüter. Welche Wogen die ­Causa bis heute auftürmt, zeigen Gerichtsunterlagen, die im Internet kursieren. Aber dank „Lehman“ stehen Kontrahentenrisiken inzwischen im Blickfeld eines jeden ­Treasurers.

Spekulationsexzesse, eine wahnwitzig dünne Eigenkapitalaus­stattung, Ungereimtheiten bei der Bilanzierung und fehl­geschlagene Rettungsversuche sorgten dafür, dass die Investmentbank ­Lehman Brothers am 15. September 2008 Gläubigerschutz nach Paragraf 11 des United States Bankruptcy Codes beantragt hat. Das ­gerichtliche Insolvenz­verfahren gegen die Muttergesellschaft des ­Konzerns, ­Lehman Brothers Holding Inc. (LBHI), wird als „in re Lehman ­Brothers Holding Inc.“ bezeichnet – „in Sachen Lehman“ sozusagen – und ­dauert bis in die Gegenwart an. Gerichtsakten zufolge handelt es sich um den größten Bankrott in der Geschichte der USA. Zum Zeitpunkt der Insolvenz war Lehman Brothers die viertgrößte Investmentbank der Vereinigten Staaten mit einer Historie von 158 Jahren.

Wie sich schnell herausstellte, war die Bank in erheblichem ­Umfang in Derivatepositionen eingebunden, die mit dem Zusammenbruch des Instituts in Not gerieten. Spätestens mit dem Kollaps von Lehman Brothers wurde den Marktteilnehmern deshalb das bis dahin meist wenig ­beachtete Kontrahentenrisiko bewusst, das mit ­außerbörslich gehandelten Finanzkontrakten (OTC-Derivate) einhergehen kann, also das Risiko, dass die Gegenpartei ausfällt, bevor das finale Settlement ­erreicht ist.

Auch wenn die Pleite inzwischen fast vier Jahre zurückliegt, befassen sich auch heute noch Juristen mit der Causa. „Weltweit sind über 80 verschiedene Insolvenzverfahren über Gesellschaften des Lehman-Konzerns anhängig. Betroffen sind über 40 unterschiedliche Jurisdiktionen“, weiß Dr. Michael Frege. Der Fachanwalt für Insolvenzrecht der Kanzlei CMS Hasche Sigle wickelt als Insolvenzverwalter den deutschen Ableger von Lehman Brothers ab. Gleichwohl werden nicht alle der weltweit laufenden Verfahren öffentlich geführt. Das gilt insbesondere im Prozess über das Vermögen der Lehman Brothers Bankhaus AG in Deutschland. Das ist auch der Grund, weshalb ­hiesige Rechtsanwälte nur Informationen erteilen dürfen, die dieser ­Beschränkung nicht unterliegen. Konträr stellt sich die Situation im US-amerikanischen Insolvenzverfahren über das Vermögen der ­Muttergesellschaft LBHI dar. Dieses Insolvenzverfahren ist öffentlich und erlaubt interessante Einblicke in eine hochkomplexe Welt.

Laut Berichten der US-Muttergesellschaft war Lehman in mehr als 320.000 Swap-Geschäfte involviert. Diese wurden von den zuständigen Insolvenzverwaltern analysiert, zum Teil saniert und schließlich abgewickelt. Brancheninsidern zufolge ist allerdings davon auszugehen, dass weltweit bis heute nicht sämtliche Geschäfte zu den Akten gelegt sind. Prüfungen und Verhandlungen beziehungsweise auch Gerichtsverfahren sind daher bis heute anhängig.

_Knall auf Fall

Der Cocktail, der zur Finanzmarktkrise und zum Niedergang von Lehman Brothers geführt hat, besteht aus vielen Zutaten, wie dem US-Subprime-Markt, Rating-Agenturen, Aufsichtsbehörden, außer­bilanziellen Zweckgesellschaften und Renditegier. „Will man die Krise jedoch auf einen Nukleus zurückführen, muss man sicherlich die ­exzessive Ausgestaltung des Derivatehandels, der sowohl der ertrags-, also auch der risikoreichste Teil der modernen Finanzmärkte ist, als einen der zentraken Auslöser nennen“, schreibt Alexander Wüerst, Vorsitzender der Kreissparkasse Köln und Landesobmann der ­rheinischen Sparkassen in einem Beitrag zum Stand des Finanz­systems nach der Lehman-Pleite. Studien zufolge soll Lehman unmittelbar­ vor der Pleite große Teile eigens verbriefter Hypothekentranchen auf den Büchern gehalten haben statt sie am Markt zu ver­äußern. Als vollkommen unverantwortlich muss die untragbare Bilanz­struktur, mit der die Bank tätig war, bezeichnet werden: Ausweislich des Lehman-Brothers-Geschäftsberichts 2007 agierte die Pleitebank im Jahr vor dem Zusammenbruch mit einem rekord­verdächtigen Verschuldungsgrad von 30,7. Von 2003 bis 2006 balancierte Lehman ­bereits mit einer im Vergleich zum Eigenkapital stetig zunehmenden Verschuldung im Verhältnis von 24 bis 26. Mit anderen Worten: Das Eigenkapital wurde 2007 mit dem Faktor 30,7 gehebelt,­ was wiederum einer minimalistischen Eigenkapitalquote von 3,2 Prozent entspricht.

Eine derart aggressive Finanzierung sorgt in Boomphasen für einträgliche Profite – im Abschwung können daraus allerdings erhebliche Gefahren für das Unternehmen resultieren, etwa wenn Profite ausbleiben und außerplanmäßige Abschreibungen das Eigenkapital schmälern. Die Bilanzsumme belief sich 2007 übrigens auf 691 ­Milliarden Dollar. Zum Vergleich die Commerzbank: Die, gemessen an der Bilanzsumme, zweitgrößte deutsche Bank wies am Ende des ersten Quartals 2012 beim aktuellen Wechselkurs eine Bilanzsumme von rund 864 Milliarden Dollar aus. (Lesen Sie im zweiten Teil, welches Licht ein im Internet kursierendes Gerichtsdokument auf die Causa Lehman wirft.

Rückblickend lässt sich sagen, dass Lehman insbesondere aufgrund ihres gewaltigen Leverages anfällig für Friktionen an den ­Finanzmärkten war. Darüber hinaus soll das Institut schon Monate vor seinem Fall durch Manipulationen der Bilanzen die Folgen des Scheiterns des Geschäftsmodells vertuscht haben. Diese Ansicht vertritt der Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte, dessen Kanzlei seit 1995 auf dem Gebiet des Kapitalanlagen- und Bankenrechts sowie auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes tätig ist. Dem für den Fall Lehman Brothers zuständigen Konkursrichter wurde ein 2.200 Seiten langer Untersuchungsbericht vorgelegt. Der Anwalt und Chef der Anwaltskanzlei Jenner & Block, Anton Valukas, hat über ein Jahr lang die Fehlentwicklungen der US-Investmentbank, die zum Scheitern geführt haben, untersucht. Valukas entlarvte Bilanzmanipulationen, die auf nicht ­weniger als 300 Seiten dargelegt werden.

_Das große Aufräumen

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC, die auch als Insolvenzverwalter der englischen Lehman-Einheiten LBIE, Storm Funding und anderer Ableger zuständig ist, entsandte noch im September 2008 mehrere Dutzend Experten, um die Derivatebücher von ­Lehman zu sondieren. Bei PWC vertrat man schon damals die Einschätzung, der Kollaps sei ungewöhnlich groß und komplex. Rund fünf Wochen nach der spektakulären Pleite kam man bei der Prüfungsgesellschaft zu der Einschätzung, dass sich die Abwicklung der Bank in die Länge ziehen werde. Grund sei eine „gewaltige Anzahl an Transaktionen“, in die Lehman involviert gewesen sei. Hauptaufgabe im US-Insolvenzverfahren war es, Vermögen weltweit zu sichern. Nach Angaben von Rechtsexperten waren zunächst kaum Gelder vorhanden. Das ist einer der Gründe, weshalb in einem ersten Schritt die Finanzstrukturen von Lehman saniert werden mussten, wie es in der Sprache der Juristen heißt, um anschließend Assets verwerten und Gläubiger bedienen zu können.

Weltweit gilt das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung, eine Unterscheidung zwischen Groß- und Kleingläubigern ist demnach nicht vorgesehen. Gleichwohl sorgt derzeit ein zweiseitiges Dokument zur „Zustellung der Regulierung von Derivategeschäften“ unter institutionellen Investoren für Aufsehen. Die Zustellungsurkunde („Affidavit of Services“) ist mit einem rund 500-seitigen Anhang versehen, der unzählige E-Mail-Adressen augenscheinlich geschädigter Anleger enthält, darunter auch aus Deutschland. Nach Ansicht von ­Juristen ist das Dokument Teil einer riesigen Prozessakte, das entweder absichtlich oder zufällig im Internet gelandet ist. Wie dem auch sei, die schiere Menge von Beteiligten verdeutlicht mit Nachdruck, welche Ausmaße die Causa bis heute birgt. Dessen ungeachtet wird in der Zustellungsurkunde durch eine Person des Dienstleisters „Epiq“, der administrative Tätigkeiten für den U.S. Bankruptcy Court wahrnimmt, die Durchführung der Zustellung an die Beteiligten in dem US-Insolvenzverfahren versichert.

Konkret betrifft das Dokument das US-amerikanische Verfahren der US-Muttergesellschaft LBHI; sie schlägt darin für die Regulierung von Derivaterechtsverhältnissen mit einem Forderungsvolumen von unter einer Million Dollar ein alternatives Streitbeilegungsverfahren, eine sogenannte alternative dispute resolution, vor. Nach Ansicht von Branchenkennern verbirgt sich hinter dem Antrag das Ziel, ­weitere Gerichtsverfahren zu vermeiden. Die besagten Forderungen aus Derivategeschäften sollen daher außerhalb von Prozessen bereinigt werden. Juristenkreisen zufolge dient die Installierung solcher formalisierten Verfahren regelmäßig der Einsparung von Kosten. Außerdem soll auf diese Weise die Abwicklung erleichtert werden. Als Rechtsgrundlage für das Vorgehen wird Paragraf 105(a) des U.S. Bankruptcy Code zitiert, der das zuständige Gericht dazu auffordert, die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Sanierung des insolventen Unternehmens zu hinterfragen.

Derivateansprüche im Wert von mehr als einer Million Dollar ­unterliegen dagegen nicht dem besagten Streitbeilegungsverfahren. Aufgrund der Tragweite der Insolvenz von Lehman Brothers muss aber davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Investoren Derivate­ansprüche von mehr als einer Millionen Dollar hegen. Ob und in ­welcher Höhe Ansprüche einzelner Gläubiger aus Derivateforderungen im US-Verfahren berechtigt sind und anerkannt werden, hängt von den Bankgeschäften im Einzelnen ab. Aus dem beim U.S. Bankruptcy Court geführten Forderungsregister ergibt sich, welche ­Ansprüche angemeldet sind, wer Gläubiger ist und ob diese Ansprüche anerkannt oder bestritten sind. Nach Angaben von Juristen ist ­davon auszugehen, dass Ansprüche teilweise (außergerichtlich) verglichen oder in Gerichtsverfahren noch anhängig sind. (Im dritten und letzten Teil erfahren Sie, wie es knapp vier Jahre nach Lehman um die Berücksichtigung von Kontrahentenrisiken im Investment-Prozess bestellt ist.)
Neben einer Flut von Insolvenzverfahren gab es im Fall Lehman auch Gerichtsverfahren, die von einzelnen Gläubigern allein gegen die US-Gesellschaften angestrengt wurden, wie Rechtsexperten ­gegenüber porfolio institutionell zu bedenken geben. Diese Erkenntnis kann nicht überraschen. Schließlich ist die Gläubigerstruktur im weltweiten Lehman-Konzern vielschichtig. Neben privaten und ­institutionellen Einlegern existieren Geschäftspartner unterschied­licher Bankaktivitäten. Man denke nur an Kredite, Eigenkapital­beteiligungen, Innerkonzernsachverhalte und Garantien. Ganz zu schweigen von Wertpapierpensions- und den eingangs erwähnten ­Derivategeschäften.
Mit Blick auf das Insolvenzverfahren gegen den deutschen Lehman-Ableger sind die Gläubiger zum großen Teil über die Einlagensicherung geschützt. Das gilt insbesondere für private Einleger. Dennoch seien für eine Bankeninsolvenz eine gehörige Zahl an Gläubigern verblieben, betont ein mit der Materie vertrauter ­Experte. Diese seien aufgrund ihrer institutionellen Funktion oder aufgrund der Art der Finanzprodukte nicht einlagengeschützt. „Die Anzahl der Gläubiger unterliegt der Maßgabe der Nichtöffentlichkeit“, schränkt der ­Jurist die Frage nach Details ein.

_Schütze sich wer kann

Im Zuge der Finanzkrise und der Insolvenz von Lehman Brothers hat das Thema „Kontrahentenrisiko“ eine völlig neue Dimension ­angenommen. Nach Angaben von PWC haben Investment-Management-Firmen inzwischen aber die Bedeutung der Messung, des ­Managements und schlussendlich der Verringerung des Kontrahentenrisikos durch Collateral Management erkannt. Treasurer aller ­Couleur hoffentlich eingeschlossen. Der Begriff des Collateral ­Management umschreibt den Prozess der Reduzierung des Kontrahenten­risikos aus Transaktionen wie Wertpapierleihe, ­Repurchase Agreements (Repos), Asset Backed Liabilities und OTC-Derivaten durch die Hinterlegung von Sicherheiten. Die wichtigsten Komponenten ­umfassen das Cash und Margin Call Management, die Bewertung ­sowie die laufende Überwachung und Weiterverwendung des jeweiligen Collateral.

Die Besicherung von OTC-Derivaten, Repos und WertpapierleiheGeschäften mit Collateral führt dabei regelmäßig zu einer ­Reduzierung des mit der jeweiligen Transaktion verbundenen Kontrahentenrisikos, „da im Falle einer Nichteinhaltung vertraglicher Verpflichtungen eine ­potenziell höhere Recovery Rate realisiert werden kann als bei einer unbesicherten Transaktion“, erläutert PWC in einer Publikation für ­institutionelle Investoren und skizziert konkrete Vorteile: „­Bedingt durch die Verringerung der Risikoposition kann das ­Geschäftsvolumen mit bestehenden Kontrahenten ausgebaut und die Kontrahentenbasis ausgeweitet werden.“ Parallel dazu werden Kredit- und Exposure-­Limite entlastet. Die Besicherung von OTC-Derivaten führt ebenfalls zu einer Verbesserung der Preise und der Handelbarkeit. Die hinterlegten Sicherheiten können herangezogen werden, um zusätzliche ­Erträge zu erzielen. So können Barmittel reinvestiert und Wertpapiere weiterverliehen beziehungsweise verpfändet werden.

Für Lehman-Gläubiger stellen diese Erkenntnisse sicher nur ­einen schwachen Trost dar. Bis dato ist übrigens nicht abschließend geklärt, welcher Vermögensschaden letztlich durch den Zusammenbruch des Konzerns entstanden ist. Zumindest im Hinblick auf das deutsche  ­Insolvenzverfahren sind Zahlen verfügbar. Gemäß der Ver­öffentlichung des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 23. September 2010 und vom 8. November 2011 hat es für die Gläubiger im ­Oktober 2010 eine erste Abschlagszahlung in Höhe von 17 Prozent und im Dezember 2011 eine weitere Abschlagszahlung in Höhe von 14,5 Prozent gegeben. Demnach sind 31,5 Prozent der anerkannten Forderungen bereits korrigiert worden. Dies kann wirtschaftlich ­gesehen schon als außerordentlicher Erfolg betrachtet werden.

portfolio institutionell, 13.07.2012

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