Recht, Steuer & IT
19. Dezember 2012

INTERVIEW: Im Kampf mit der Komplexität

Die Reform des Versicherungsaufsichtsrechts ist ein überaus komplexes Mammutprojekt. Der Umsetzung von ­Solvency II im Wege steht oft ein mangelndes Verständnis und Unwissen um dessen Hintergründe. Im Gespräch mit portfolio institutionell schafft Gabriel Bernardino, der Chef der Versicherungsaufsicht, etwas mehr Verständnis.

_Herr Bernardino, warum verschiebt sich Solvency II nun auf wahrscheinlich 2016?
Das Hauptproblem ist der Umgang mit  langfristigen Garantieprodukten. Der Grund für die Verspätung ist, dass wir eine Bewertung darüber bekommen wollen, wie die verschiedenen Werkzeuge funktionieren, die speziell für den Umgang mit den langfristigen Garantie­produkten entworfen wurden. Maßnahmen wie Matching Adjustment und antizyklische Prämien­ müssen getestet werden. Das wurden sie bisher noch nicht.
Aber das genaue Timing für die Testphase ist noch in der Diskussion. Die Kommission, das Parlament und der Rat der EU müssen entscheiden, wann der Test kommt und was die Basis dafür ist. Nach dem Test werden wir unsere Schlüsse ziehen und den politischen­ Institutionen der EU Empfehl­ungen bereitstellen.
Klarheit und Sicherheit sind für die Aufsicht, aber auch für die Branche wichtig. Das Schlimmste wäre eine Situation ohne Klarheit und verbindlichen Termin.  

_War bisher nicht immer die Strategie, Solvency­ II so früh wie möglich zu starten und dann, während es läuft, nachzubessern?
Das müssen Sie die politischen Institutionen fragen. Unsere Ansicht von Solvency II ist, dass das System, das wir heute nutzen, nicht hilfreich ist. Wir brauchen mehr und vor allem bessere Informationen. Verschiedene Arten von Risiken sind momentan in den Kapitalberechnungen nicht reflektiert. Darum benötigen wir Solvency II. Wir brauchen Solvency II auch deshalb, weil es viel mehr ist als nur Kapital. Solvency II ist eine neue und völlig andere Sichtweise auf das Risiko­management und ein großer Schritt, was die Transparenz betrifft. All diese Elemente sind zum Schutz der Versicherten sehr wichtig für das Versicherungsgeschäft.
Eine zweite Sache ist das politische Timing.­ Vor allem bei den langfristigen ­Produkten in der Lebensversicherung gibt es einige Herausforderungen bezüglich der ­geltenden wirtschaftlichen Bewertung. Der Grund ist die jetzige Volatilität. Die ­Botschaft der Eiopa: Wir benötigen Solvency II. Aber genauso müssen wir Klarheit und Sicherheit mit in den Prozess einbringen.   
 
_Versicherungsunternehmen würden sicher­ zustimmen, dass es mehr Klarheit in dem Prozess braucht. Aber was sie noch mehr ­benötigen, sind andere Stressfaktoren für die Asset-Klassen.
Lassen Sie uns einen Blick auf die Entwicklung von Solvency II, also ein risiko­basiertes System, werfen: Die Basis ist, dass man einen Blick auf die Geschäftsrisiken von Versicherungen wirft. Eines der wichtigsten Risiken betrifft deren Investments. Dann braucht es noch die Entscheidung­ zu den Sorgfaltspflichten, die in dem System ­gewünscht sind. Und das ist natürlich eine politische Entscheidung. Die politischen ­Institutionen in Europa haben sich in den Richtlinien­ von 2009 klar ausgedrückt: „Wir möchten, dass die Unternehmen höhere ­Kapitalanforderungen haben, um die Zahl der Ausfälle auf wahrscheinlich 99,5 Prozent zu senken.“ Wie schon gesagt, es war keine Entscheidung der Aufsicht. Die Sorgfaltspflichten waren eine politische Entscheidung. Die Aufsicht analysierte dann basierend auf den vorliegenden Daten die Risiken. Nehmen wir zum Beispiel die Volatilität der Märkte in die Kalkulation, kommen wir dann auf 39 Prozent.
Aber was man bei der Kapitalberechnung verstehen sollte: Es geht nicht nur um die Risikozuschläge in jeder Anlagekategorie. Man muss auch die Korrelationen sehen. Wenn man die Korrelationen berücksichtigt, kann das Aktienrisiko bis auf 15 Prozent sinken.

_Die Wirkungen von ­Diversifikation sind sehr wichtig, deren Verankerung in Solvency II ist aber relativ unbekannt.
Ja. Wenn man die Formel genau betrachtet, müssen Versicherer nicht Kapital in ­Höhe der Summe der Risikozuschläge vorhalten. Die Formel berücksichtigt Korrelationen! Wenn man also ein gut diversifiziertes Portfolio hat, gehen die Zahlen nach unten! Ich denke, dass das ein guter Anreiz ist. Und wir sollten Unternehmen weiterhin zu ­einem gut diversifizierten Portfolio ermutigen.

_Ist zu befürchten, dass alle dieselbe ­Solvency-II-effiziente Asset Allocation ent­decken und so Systemrisiken entstehen?
Nein. In den Ländern, in denen schon ­eine risikobasierte Regulierung implementiert ist, gibt es kein Herdenverhalten in ­Sachen Asset-­Allokation. Es wird mehrere optimale Asset-Allokationen geben, der Risiko­appetit wird immer unterschiedlich sein. Es wird Unternehmen geben, die zum Beispiel gute Fähigkeiten im Immobilien­management besitzen und deshalb dort höher­ ­allokiert sein werden. Die Anlagepolitik­ wird nicht nur von Regulierungsauflagen getrieben. Im Gegenteil: Wir gehen im Vergleich­ zu Solvency I in eine total andere Richtung. Die Allokation der Portfolios wird sich viel mehr an den wirtschaftlichen Gegebenheiten oder den Garantien orientieren.

_Aber fünf oder sechs Prozent für spanische und italienische Staatsanleihen ohne Stressfaktoren sind ein großer Anreiz.
Das Risiko von Staaten wurde in der ­Anfangsphase, als das Regime entwickelt wurde, anders betrachtet. Die Erfahrung war, dass es keine Ausfälle in OECD-Ländern gibt. Aber Sie haben Recht, wenn sie sagen, dass die Wahrscheinlichkeit von künftigen Ausfällen in Betracht gezogen werden sollte. Die Wahrnehmung von Staatsrisiken­ hat sich ­geändert. Deswegen sollten wir nach dem besten Weg suchen, um dies in unser Gesamtsystem zu integrieren. Risikozuschläge­ können eine Lösung sein. Eine andere ­Lösung wäre, die Konzentration­ zu berücksichtigen, dass also für einen Exposure-­Prozentsatz von X ein Risikozuschlag von Y benötigt wird.
Es gibt verschiedene Wege – nicht nur, sofort auf Risikozuschläge zurückzugreifen, die auf Rating-Agenturen basieren. Wir möchten auch die Abhängigkeit von Ratings reduzieren. Aber die Änderungen sollten nicht jetzt in das Regime implementiert ­werden. Das würde nur mehr Probleme, ­Fragen und systemische Risiken hervorrufen als Lösungen bieten. Ich denke, es ist eine Frage von Balance­ und Arbitrage, und das müssen Sie als Gesamtbild betrachten.

_Die Skeptiker sagen, dass Solvency II nicht in die Niedrigzinswelt von heute passt. Die Stressfaktoren sind im Gegensatz zu den Renditen zu hoch.
Die Stressfaktoren reflektieren den Wirtschaftszyklus und sind nicht konstant. Konstant ist nur das Confidence-Niveau von 99,5 Prozent. Die Risikofaktoren sind nicht in Stein gemeißelt. Die Risikofaktoren werden überprüft, und die Risikozuschläge werden mit der Zeit neu eingestellt. Die meisten Risiko­faktoren berücksichtigen die Entwicklung der Märkte.
Offen gesagt: Solvency II ist nicht perfekt. Es gibt kein perfektes regulatorisches System. Regulatorische Systeme basieren auf Referenzpunkten. Sie müssen verstehen, dass das System nach einem europäischen Durchschnitt gebaut wurde. Also kann es nicht genau die Risiken eines typischen deutschen Versicherers reflektieren. Das Schöne an Solvency II ist, dass wir neben der Standardformel auch die Möglichkeit haben, partielle­ und interne Modelle zu nutzen. ­Diese Modelle führen zu Kapitalberechnungen, die das Risiko besser reflektieren.

_Typisch für deutsche Versicherer ist, dass sie eine signifikante Allokation in deutsche Immobilien haben, aber nicht genug Ressourcen für ein internes System.
Das System hat die nötigen Werkzeuge, um sich an das spezifische Risikoprofil eines Unternehmens anzupassen. Sie können ein partielles internes Modell bauen, das diesem spezifischen Investment gilt. Ich glaube, es stimmt, dass 25 Prozent für den deutschen Immobilienmarkt ein enormer Risikoaufschlag ist. Aber in anderen Ländern ist er niedriger, als er sein sollte. Das System hat die Möglichkeiten, dies zu überwinden. ­Daraus rührt aber auch die Komplexität des Systems.
Sobald wir mit der Umsetzung starten, werden wir mögliche Wege sehen. Solvency II wird ein System sein, das die Risiken viel besser erfassen kann, als dies heute der Fall ist. Und es wird nicht mehr passieren, dass Unternehmen mehr Kapital brauchen, als sie eigentlich sollten. Das ist kein Wunsch der Regulierungsbehörde oder Aufsicht. Wir möchten eine optimale Allokation des Kapitals.­ Deswegen wollen wir Solvency II. Innerhalb von Solvency I haben wir Unternehmen, die tatsächlich nicht diese Kapitaldecke brauchen. Aber andere brauchen ­wiederum mehr Kapital, weil sie sich in risiko­reichere Investments begeben.

_Um die Nachteile eines auf Durchschnittswerten basierenden Systems zu überwinden, braucht man die Genehmigung für interne Modelle. Wann gibt es diese­ Genehmigung?
Wir sind noch nicht im Genehmigungsprozess. Eiopa hat einen Pre-Application-Prozess kreiert, in dem Unternehmen ­zusammen mit der Aufsicht einen Dialog starten können. Hoffentlich ist die Aufsicht am Ende dieses Prozesses dazu fähig, den Unternehmen zu sagen: „Ja, Sie sind genügend vorbereitet, um den Prozess formal zu präsentieren, und wir können diesen formal bestätigen.“ Oder wir können sagen: „Nein, entwickeln Sie bitte dieses oder jenes ­weiter.” Die Bestätigung und Genehmigung kann aber erst erfolgen, wenn die Richtlinie durchgesetzt ist.
Natürlich ist der Genehmigungsprozess von internen Modellen komplex. Eine­ Sache ist der so genannte Use-Test. Unternehmen müssen zeigen, dass das Modell wirklich ­täglich genutzt wird. Wir akzeptieren keine Black Box.
Ein Vorteil von Solvency II ist, dass partielle interne Modelle möglich sind. Wir ­denken nicht nur an große Versicherer. Partielle Modelle sind ein guter Weg für kleine oder ­mittelgroße Unternehmen, die ein gutes Verständnis für die Risiken haben. Ich ­glaube, dass es ein großes Missverständnis darüber gibt, dass kleinere Versicherungen nicht die Möglichkeit haben, diese ­Werkzeuge zu nutzen. Ich stimme dem nicht zu.

_Wie viele Risikomanager sind für ein internes oder partiell internes Modell nötig?
Dafür gibt es keine Formel. Aber: Für  Solvency II gilt das Proportionalitätsprinzip. Es werden keine 20 Risikomanager benötigt, wenn man ein kleines oder mittel­großes ­Unternehmen ist. Das ist ebenso ein Missverständnis von Solvency II.

_Was die Versicherungen aber vermissen, ist eine Interpretation des Proportionalitäts­prinzips.
Was ich Ihnen versichern kann, ist, dass Eiopa das Beste versucht, um Richtlinien zu erstellen, die eine Anwendung des Proportionalitätsprinzips ermöglicht. Aber die Aufsicht sollte nicht definieren, wie die Unternehmen das Risikomanagementsystem in ihrer Organisation implementieren und wie das funktionieren soll. Die Unternehmen sollten das selber machen.
Die Unternehmen sollten so vorgehen, wie sie es selbst für ein erfolgreiches Risikomanagement und die interne Kontrolle für richtig halten. Dann wird die Aufsicht analysieren. Ich ­versichere Ihnen, dass wir ­Richtlinien bilden werden, wie die Aufsicht dabei vorzugehen hat.

_Was können Pensionsfonds und Pensionskassen von Solvency II erwarten?
Zurzeit sind sie nicht betroffen. Aber wir glauben, dass auch betriebliche Pensionsfonds eine viel stärker risikobasierte Regulierung brauchen. Eine Art Reality Check muss es auch für Pensionsfonds geben. Für die Zukunft ist es wichtig, die Schritte zu verstehen, die gemacht werden müssen. Wir ­kamen zu drei Ergebnissen. Erstens: Die ­Anforderungen und Prinzipien, die wir für Solvency II auf der Governance-Seite haben, sollten auch für Pensionsfonds gelten. Die Prinzipien, speziell zum Risikomanagement, sind auch für betriebliche Pensionsfonds sehr wichtig – aber natürlich mit proportionaler Berücksichtigung.
Die zweite Schlussfolgerung betrifft die Transparenz. Solvency II verbessert die ­Informationslage nicht nur für die Aufsicht, sondern auch für Externe. Wir empfehlen der Kommission zum Beispiel, dass im Fall von beitragsorientierten Systemen ein Dokument mit den wichtigsten Informationen an die (künftigen) Mitglieder dieses Plans ge­geben wird. Dieses Dokument würde die ­Kosten, Gebühren, Kommissionen und so weiter beinhalten.
Dritte Schlussfolgerung: Betriebliche Pensionsfonds sollten auch eine wirtschaft­liche Bewertung von Vermögen und Verbindlichkeiten haben. Wir müssen verhindern, dass, wenn ein Problem auftaucht, es zu spät ist, um es zu lösen. Natürlich sollte man die Unterschiede zu Versicherungen beachten. Die Rolle der Sponsor-Unternehmen oder Garantien ist zu berücksichtigen.   

_Haben Sie nicht einen Interessenkonflikt, wenn Sie sich um die Pensionsfonds und ­deren Mitglieder kümmern?
Im Gegenteil. Der beste Weg, mit den zwei Perspektiven umzugehen, ist, sie ­zusammen zu betrachten. Der beste ­Verbraucherschutz ist ein vernünftiger und stabiler Pensionsfonds oder Versicherer. ­Darüber hinaus gibt es andere wesentliche Elemente, wie eine faire Behandlung, gute Informationen und guter Service.

_Der Kunde möchte eine hohe Pension, und das ist nicht gesund für den Pensionsfonds.
Klar möchte man die höchstmögliche Pension. Aber das kann nicht mit einem erhöhten Risiko für den Plan oder Versicherer einhergehen. Das kann nämlich ein Risiko­ für die Pension sein, wenn man alt ist. Die Stabilität des Gesamtsystems und der Verbraucherschutz müssen zusammen betrachtet werden. Und schauen Sie auf die Krise im Bankensektor: Wer zahlt am Ende des Tages, wenn es instabil wird?

_Die Steuerzahler.
Jeder von uns. Also können Sie nicht ­sagen, dass finanzielle Stabilität und Verbraucherschutz isoliert betrachtet werden müssen. Um mehr Realität in der Bewertung von Pensionen zu haben und ein besseres Verständnis von den Herausforderungen und Risiken zu bekommen, müssen wir handeln! Wir haben gesehen, wohin sich Staatsfinanzen entwickeln, wenn man die Augen vor der Realität verschließt. Denn wenn die Märkte diese Gegebenheiten bemerken und berücksichtigen, ist es wahrscheinlich zu spät, um noch erfolgreich gegensteuern zu können.

_Wie berücksichtigt die Eiopa das Niedrigzinsumfeld für Lebensversicherer, bevor es zu spät ist?
Es liegt in unserer Verantwortung, vorauszudenken. Der beste Weg, mit Risiken umzugehen, ist, zu versuchen, diese zu messen und präventiv zu agieren. Zumindest möchten wir die unterschiedlichen Wege, damit umzugehen, ausfindig machen.
Wir führten einen Stresstest für große Versicherer in Europa­ mit Fokus auf Niedrigzinsszenarien durch. Wir befinden uns nun im zweiten Stadium der Analyse, in der wir mit den verschiedenen Aufsichten in ­Europa sprechen und schauen, welche Aktivitäten schon durchgeführt wurden. Dann konzentrieren wir uns auf die Fälle, in denen die Analyse tiefer gehen muss. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ­damit umzugehen. Wichtig ist, dass die ­Unternehmen die Situation erkennen und entsprechend ihre Produkte und Investments ändern. Aber nochmal: Es ist besser, jetzt damit anzufangen.

_Die ultimative deutsche Lösung heißt Protektor.­
Ich bin mir sicher, dass wir nicht soweit kommen. Es gibt einige Schritte, die man zuvor machen kann. Und wenn es transparenter ist, ist das ein Ansporn, die Risiken rechtzeitig anzugehen.

_Würden Versicherer das nicht auch ­ohne Solvency II machen?
Manche von ihnen ja. Aber beachten Sie den Wettbewerb am Markt. Der erste, der seine Produkte ändert, riskiert einen Verlust bei den Marktanteilen. Eine gemeinsame ­Regulierung hilft, dass sich alle Unternehmen auf dem gleichen Spielfeld bewegen.

_Haben Sie sich Ihren Job so schwierig vorgestellt?
Ich bin schon mein ganzes Leben ein ­Regulierer und Aufseher. Also weiß ich ­natürlich, dass es keine leichte Aufgabe ist. Die derzeitigen Herausforderungen sind aufgrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten enorm. Aber zugleich ist es wichtig, dass wir zu mehr Stabilität beitragen können.

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