Strategien
6. Juni 2013

Die fragwürdige Rolle der Spieltheorie

Unsere Gastautoren vertreten die Meinung, dass Frank Schirrmacher die Rolle der Spieltheorie in seinem neuen Buch falsch sieht. Im Gegensatz zur Schirrmacher-Argumentation sei die Spieltheorie keine Rechenmethode, sondern eine Denkmethode. Wegen der falschen Ausgangshypothese seien viele Schlussfolgerungen Schirrmachers unbrauchbar.

Gastbeitrag von Dr. Volker Bieta, Dr. Hellmuth Milde und Dr. Nadine Weber

In seinem neuen Buch „Ego: Das Spiel des Lebens“ stellt Frank Schirrmacher einen Zusammenhang her zwischen den Fehlentwicklungen der Informationsökonomie und der Rolle der Spieltheorie. ­Etwas genauer: Die Spieltheorie sei ursächlich dafür verantwortlich, dass der Informationskapitalismus in unserem Leben eine bedroh­liche Form angenommen hat. In unserem Beitrag argumentieren wir, dass die von Schirrmacher konstruierte Verknüpfung auf irrigen ­Vorstellungen über die Spieltheorie basiert.

Poker versus Roulette

Um zu zeigen, was an Schirrmachers Weltbild falsch ist, erklären wir zunächst den Unterschied zwischen Roulette und Poker; dabei steht Roulette für die Wahrscheinlichkeitstheorie und Poker für die Spieltheorie. Im Roulette-Spiel stehen sich ein aktiver und ein ­passiver Spieler gegenüber. Der passive Spieler ist der Croupier, der die Kugel einsetzt. In jeder Spielrunde wird eine Zahl zwischen null und 36 ausgelost. Die 37 möglichen Zahlen treten stets mit der bekannten und konstanten Wahrscheinlichkeit (1/37) auf. Der wettende Spieler trifft im Wahrscheinlichkeitsansatz also auf einen passiven Gegenspieler. Im Ansatz der Spieltheorie sieht die Welt ganz anders aus. Hier treten zwei aktive Spieler gegeneinander an; es geht um ein Poker-Szenario. Jeder Spieler muss bei seiner Entscheidung einkalkulieren, dass und wie der Gegenspieler möglicherweise reagieren wird. Im Spiel-Szenario dürfen die wechselseitigen Reaktionen nicht ignoriert werden. Man spricht hier auch von strategischen Spielen. Details hatten wir in einem Beitrag für portfolio institutionell im Januar 2012 erklärt.

Die Umsetzung der Konzepte der Spieltheorie in die Praxis ­erfolgte im großen Stil während der Zeit des Kalten Krieges. Die ­bekanntesten Fälle sind die Berlin-Blockade und die Kuba-Krise. Dann kam das Jahr 1989 und das Ende des Kalten Krieges. Nun beginnt die von Schirrmacher konstruierte Verwirrung. Nach seiner Lesart ­standen plötzlich Legionen von hoch spezialisierten Spieltheoretikern ohne Job da. Was sollten sie tun? Ohne die Chance auf Weiterbeschäftigung im Militärbereich mussten sie sich nach Alternativen in ­anderen Branchen umsehen. In der Vorstellung von Schirrmacher fanden sie Jobs in Wirtschaft und Verwaltung; die am stärksten prä­fe­r­ierte Branche war der Bankensektor. Unsere Frage lautet: Entspricht diese Behauptung von Schirrmacher der Wirklichkeit?

Welche Bank- oder Finanzprobleme hätten Spieltheoretiker ­eigentlich lösen sollen? Tatsache ist, dass im Finanzsektor Milliarden von Daten und Zahlen vorhanden sind. Jede Finanztransaktion schlägt sich in Buchungszahlen auf den Konten der beteiligten Parteien ­nieder. Die Auswertung dieser Zahlen und die Gewinnung neuer Einsichten über die zugrundeliegenden Zusammenhänge sind nach ­Auffassung von Schirrmacher die wichtigsten Aufgaben für Spiel­theoretiker. Wir fragen: Ist der Spieltheoretiker wirklich ein Zahlenmensch, der für die Lösung dieser Aufgabe qualifiziert ist?

Nicht Spieltheoretiker, sondern Statistiker
Jetzt kommt die oben vorgestellte Unterscheidung zwischen Roulette und Poker ins Spiel. Beim Roulette, so sagten wir, ist der passive Spieler durch eine exogen gegebene Wahrscheinlichkeitsverteilung charakterisiert. Die Eigenschaften jeder Verteilung schlagen sich in spezifischen Parameterwerten nieder. Bei sehr großen Datenmengen ist die Ermittlung dieser Parameterwerte der Gegenstand ­komplizierter mathematischer Methoden und Verfahren. Die Experten dafür sind Wahrscheinlichkeitstheoretiker und Statistiker. Das Expertenwissen dieser Spezialisten ist für den Normalbürger undurchschaubar. Der Satz „Wie lügt man mit Statistik“ bringt das damit verbundene Misstrauen zum Ausdruck.

Als Analogie für die Spieltheorie hatten wir das Poker-Spiel ­genannt. Wichtig ist die folgende Einsicht: Die Spieltheorie ist in ­erster Linie eine Denkmethode. Dies ist der Gegensatz zur Statistik, die ausschließlich eine Rechenmethode ist. Für die angesprochene Kuba-Krise lauteten die zentralen Fragen: Wie reagiert die ­Sowjetunion, wenn die USA eine Blockade durchführen? Wie reagiert die Sowjetunion bei einer US-Invasion? Bei der Spieltheorie geht es darum, die Vielzahl der möglichen Strategienkombinationen der beteiligten Spieler miteinander zu vergleichen und die beste Strategienkombination auszuwählen. Die beste Lösung ist das bekannte Nash-Gleichgewicht. Eine Strategienkombination mit der Nash-Eigenschaft setzt sich durch, weil sie von keinem Spieler infrage gestellt wird. In seinem Buch „Dreizehn Tage“ schildert Robert Kennedy das Hin und Her der Argumentation im Beraterstab des damaligen Präsidenten John F. Kennedy. Das waren Denkprozesse. Mit statistischen ­Rechenmethoden hatte das nichts zu tun.

Im Gegensatz zur Behauptung von Schirrmacher besteht also ein enger Zusammenhang zwischen Statistik und ­Informationsökonomie. Diesem Tatbestand trägt man auch in der Realität Rechnung. In den Forschungsabteilungen von großen Banken haben heute die ­Statistiker eine dominierende Rolle. Ironischerweise gewinnt jetzt ein Argument von Schirrmacher zumindest teilweise an Gültigkeit. Als am Ende der 80er Jahre das Kernforschungszentrum CERN, in der Nähe von Genf gelegen, aus Budgetgründen viele Mitarbeiter entlassen musste, ­stellte sich für die – an große Datenmengen gewohnten – Physiker die ­Frage: Wohin jetzt? Die Antwort lautete: Eine Bewerbung bei den Banken hat Erfolgsaussichten. Die Banken suchen Experten für das Data ­Mining. Die im Banken-Research beschäftigten Statistiker sind heute mehrheitlich Naturwissenschaftler. Dummerweise fehlt ihnen jedoch der ökonomische beziehungsweise finanzwirtschaftliche Sachverstand. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Hauptgrund für die nicht enden wollende Folge von Finanzkrisen.

Risikomanagement der Banken
Eine Zwischenbemerkung soll noch kurz eingeschoben werden. Aus unserer Sicht fehlt der Sachverstand nicht nur bei naturwissenschaftlich orientierten Statistikern, sondern auch bei Wahrscheinlichkeitstheoretikern, die in das Risikomanagement abgewandert sind. Typischerweise vertreten diese Risikomanager das Weltbild der s­tochastischen Finanzmarkttheorie, also die Lehre von Markowitz. Danach kann jedem Börsenwert ein konkreter Zufallsprozess zugeordnet ­werden. Auf der Basis dieser Information kann im nächsten Schritt für den betrachteten Börsenwert eine maßgeschneiderte Gegen­position fabriziert werden. Die Aufnahme dieser Gegen­position ins Wertpapierportfolio sorgt dafür, dass der Handel mit dem Basiswert risikolos wird. Bei Risikomanagern führt das zu der fatalen Überzeugung, jedes Finanzrisiko sei „hedgebar“. An dieses Dogma haben ­viele Risikomanager geglaubt. Dummerweise sind sie damit massiv gescheitert. Ohne Handlungsanweisungen aus der stochastischen ­Finanzmarkttheorie würden wir heute nicht die permanente Serie von Finanzkrisen beobachten.

Zurück zum Ausgangsproblem
Nach dieser Zwischenbemerkung kommen wir auf Frank Schirrmachers­ Ausgangsproblem zurück: Was sind die wirklichen Gründe für die ­bedrohlichen Fehlentwicklungen in der Informationsökonomie? Klar ist, dass die Spieltheorie dafür nicht verantwortlich ist. Wir haben ­gezeigt, dass es enge Zusammenhänge mit der Statistik und der ­Wahrscheinlichkeitstheorie gibt. Beide Gebiete haben eine lange ­Forschungstradition; Statistiker und Wahrscheinlichkeitstheoretiker gibt es seit mehr als 300 Jahren. Daher stellt sich die Frage: Warum beo­bachten wir die Fehlentwicklungen in der Informationsökonomie aber erst seit gut 30 Jahren? Die Antwort ist einfach: Erst seit diesem Zeitpunkt existiert eine leistungsfähige Computer­technologie, die in der Lage ist, die riesigen Datenmengen zu verarbeiten. So einfach ist das!

portfolio institutionell, Ausgabe 5/2013

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