Versicherungen
19. Januar 2015

Die Zukunftsfähigkeit großer Allsparten-VVaG

Der Versicherungsbranche kommt in der Wirtschaft als einziger sogenannter­ Nachleister eine Sonderstellung zu. Von zentraler Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit ist das Vermeiden bilanzieller Fehlentwicklungen. Welche Rechtsform in der Versicherungswelt die beste Zukunftsperspektive­ hat, soll genauer untersucht werden.

Gastbeitrag von Dr. Werner Görg, Aufsichtsratsvorsitzender der Gothaer Versicherungsbank VVaG und Honorarprofessor an der Universität zu Köln.

Bei der Bemessung und Ermittlung der Zukunftsfähigkeit bestimmter Unternehmungen ergeben sich zwischen Versicherungs­unternehmen einerseits und der gesamten übrigen Industrie andererseits grundlegende Unterschiede. Denn nahezu alle Bereiche der Wirtschaft zeichnen sich dadurch aus, dass sie „Vorleister“ sind. Produkte und Dienstleistungen werden zunächst erbracht und erst zeitlich nachgelagert in Rechnung gestellt. Dies bedeutet, dass bei all diesen Unternehmungen der situative Verkauf von Mehrwert für den Kunden im Vordergrund steht und die finanzielle Gegenleistung erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeht. Dieser Charakter als „Vorleister“ hat für die Frage nach der Zukunftsfähigkeit ausschlaggebende Bedeutung. Denn bei diesen Unternehmen hängt die Zukunftsfähigkeit – von Ausnahmen abgesehen – nahezu ausschließlich von der Liquiditäts­ausstattung ab. Wer zunächst möglicherweise in erheb­lichem Umfang kostenintensive Vorleistungen erbringt, die ihm so-dann finanziell nicht honoriert werden, ist in seiner Zukunftsfähigkeit massiv gefährdet.

Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Versicherungsbranche dadurch aus, dass sie zunächst lediglich ein Leistungsversprechen abgibt und für dieses immaterielle Leistungsversprechen bereits Geld, zum Teil in erheblichem Umfang, vereinnahmt. Erst zeitlich nach­gelagert mit einem Time Lag von zum Teil über 30 Jahren ergibt sich – möglicherweise – eine Zahlungsverpflichtung des Versicherungs­unternehmens. Dieser Charakter als einziger „Nachleister“ in einer Volkswirtschaft lässt die Frage nach der Zukunftsfähigkeit in einem völlig anderen Licht erscheinen.

Das die Zukunftsfähigkeit zentral beein­flussende Kriterium der permanent verfügbaren Liquidität spielt bei Versicherungsunternehmen praktisch keine Rolle. Bilanzielle Fehlentwicklungen hingegen sind im Gegensatz zur restlichen Industrie von fundamentaler, ja überlebensentscheidender Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt der bilanziellen Performance von Ver­sicherungsunternehmen eine überragende Bedeutung zu. Hierbei entspricht es der „bilanziellen Lebenserfahrung“, dass Problemsituationen bei Versicherungs­unternehmen nicht ad hoc entstehen, sondern sukzessive in exponentiell zunehmendem Maße in der bilanziellen­ Performance eines Unter­nehmens oder einer Unternehmensgruppe ihren Niederschlag finden.­ Eine möglicherweise zunächst­ unauffällige Fehlsteuerung oder Fehl­allokation wird zunehmend­ bedeutsamer und entfaltet erst in Zukunft ihre volle, dann möglicherweise existenzbedrohende Wucht.

Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, die bilanzielle Entwicklung von Aktiengesellschaften, Versicherungsvereinen auf Gegen­seitigkeit (VVaG) und öffentlich-rechtlichen Versicherungsunternehmen (ÖrVU) mit­­einander­ zu vergleichen. Auf Basis verfügbarer Informationen lassen sich diese Vergleiche nahezu bis zum Ende des Zweiten­ Weltkrieges zurückverfolgen. Um sich abzeichnende Entwicklungen auch optisch deutlich herauszuarbeiten, wurde hier  der Beobachtungszeitraum 2000 bis 2012 gewählt. Die Ein­beziehung auch des Zeitraumes von 1950 bis zum Jahr 1999 führt zu keinem anderen­ Befund.

Die verschiedenen Finanzierungsquellen je nach Rechtsform
In den verschiedenen Rechtsformen zum Betreiben des Versicherungsgeschäftes ist die wirtschaftliche Zielsetzung allerdings ausgeprägt unterschiedlich. Versicherungsaktiengesellschaften im All­gemeinen und börsennotierte Versicherungsaktiengesellschaften im Besonderen haben die Möglichkeit, Akquisitionen, sonstige Investitionen zur Erweiterung oder Stabilisierung der eigenen geschäftlichen Aktivitäten durch externe Finanzierung darzustellen. Folgerichtig ist die Pflege des eigenen Börsenkurses durch eine nachhaltige­ Unternehmenswertentwicklung, aber auch durch eine kontinuier­liche, idealerweise­ steigende Dividendenausschüttung von fundamentaler Bedeutung. Hierdurch gelingt es, für einen nachhaltig positiven Börsen­kurs Sorge zu tragen, was für Zwecke der externen Finanzierung­ in zweifacher Hinsicht eine Grundvoraussetzung darstellt. Barkapitalerhöhungen lassen sich erfahrungsgemäß nur von solchen Gesellschaften problemlos im Markt platzieren, die dauerhaft eine positive Entwicklung des Unternehmenswertes und der Dividendenrendite darstellen können. Außerdem ist der Erwerb eigener Aktien­ als künftige­ „Akquisitionswährung“ nur dann ein gangbarer und geeigneter­ Weg, insbesondere Akquisitionen zu bezahlen, wenn die Performance der eigenen Aktie – bemessen nach den oben beschriebenen Kriterien – auf Dauer potenziell künftige Aktionäre zufriedenstellt­.

Im Gegensatz dazu spielt die externe Finanzierung und die damit einhergehende zwingend notwendige Pflege des Kapitalmarktes bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit eine bestenfalls unter­geordnete Rolle. Da bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit die externe Finanzierung – von Genussscheinen und Nachranganleihen in den Grenzen des Paragrafen 53 c VAG abgesehen – keine Bedeutung­ hat, kommt dem Finanzierungsmedium der Innenfinanzierung über­ragende Bedeutung zu. Dies bedeutet, dass Versicherungsvereine dem Grunde nach für die Summe aller Investitionen, Akquisitionen et cetera die erforderlichen liquiden Mittel und Solvenz­mittel selbst erwirtschaften müssen.

Diese durchaus unterschiedliche Zielrichtung auf externe Finanzierungs­quellen bei Versicherungsaktiengesellschaften und auf Innenfinanzierung bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit schlägt sich in der bilanziellen Entwicklung – wie noch zu zeigen sein wird – deutlich erkennbar nieder. Bei dem folgenden Vergleich gelten als VVaG all die versicherungsspezifischen Aktivitäten und Prämienvolumina, die entweder in einem VVaG direkt gebunden oder aber bei Aktiengesellschaften angesiedelt sind, die ihrerseits mehrheitlich einem VVaG gehören.

Beim Spartenmix in der Sachversicherung fällt auf, dass der Autoversicherungsanteil bei VVaG deutlich über dem Durchschnitt von Aktiengesellschaft und ÖrVU liegt. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass eher große VVaG ihren Tätigkeitsschwerpunkt im Bereich der Kraftfahrtversicherung haben.


Ähnliches Wachstumstempo bei AG und VVaG

Die Wachstumsgeschwindigkeit innerhalb der drei Versicherungssparten unterscheidet sich nicht grundlegend zwischen Aktiengesellschaften und VVaG. Lediglich im Bereich der Sachversicherung ergab sich für die Jahre 2003 und 2004 ein deutlicher Wachstumsschub bei den VVaG – eine Entwicklung, die sich mittlerweile aber an die Wachstumsquoten der Aktiengesellschaften angenähert hat. Bei den Krankenversicherungsbeiträgen gesamt ergibt sich ebenfalls eine kaum unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeit. Dies gilt in gleicher Weise bei den Beiträgen in der Vollversicherung. Bemerkenswert unter­schiedlich indessen ist das Wachstum bei den tarifversicherten Personen in der Vollversicherung. VVaG wachsen hier deutlich schneller als insbesondere Aktiengesellschaften. Dass sich dies in den Beiträgen nicht niederschlägt, kann als Beleg dafür gelten, dass die VVaG das Instrument der Beitragsanpassung deutlich weniger verwenden als Aktiengesellschaften. Die Leistungsquote im Bereich der Kranken-versicherung unterscheidet sich rechtsformspezifisch nicht.

Bei Sachversicherungen liegen die Schadenquoten deutlich über denen von Aktiengesellschaften. Dies ist dem durchaus unterschied­lichen Spartenmix (siehe Abbildung) geschuldet. Traditionell­ liegt die Schadenquote im Bereich der Autoversicherung um bis zu zehn Prozent über der in den übrigen Kompositzweigen. Vor dem Hintergrund des erhöhten Kraftfahrtanteils der VVaG ist deren­ erhöhte Schadenquote sachlogisch zwingend. Die negativen Ausschläge der Jahre 2001 und 2002 sind das Resultat einer starken Betroffenheit von zwei Versicherungsaktiengesellschaften durch den terroristischen Anschlag auf das World Trade Center. 2002 ist beeinflusst vom Überschwemmungsereignis Elbe/Mulde, von dem eine große Versicherungsaktiengesellschaft in besonderer Weise versicherungstechnisch betroffen war.

Reservierungsquoten driften auseinander
Die seit 2003 zumindest optisch stattfindende parallele Entwicklung der Versicherungsvereine und der Versicherungsaktiengesellschaften im Bereich der SHUK-Sparten ist von einer sukzessiven Reduzierung­ der versicherungstechnischen Reservierungsquote maßgeblich­ beeinflusst. Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die in dieser Form beginnend im Jahr 2004 erstmalig seit Kriegsende festzustellen ist. Während die Reservierungsquote bei Versicherungsvereinen von 2005 bis 2012 von 132 auf 143 Prozent des Nettoprämienvolumens angestiegen ist, wurde die Reservierungsquote bei Ver­sicherungsaktiengesellschaften im Vergleichszeitraum nur von 123 auf 131 Prozent erhöht.

Es handelt sich hierbei um eine Sonderentwicklung, die es so im Beobachtungszeitraum seit 1950 noch nicht gegeben hatte. Da es sich aber zumindest bei den großen Versicherungsaktiengesellschaften um solche­ Unternehmen handelt, die ihren Konzernabschluss nach den IFRS-Regeln aufstellen, steht zu vermuten, dass in diesen Fällen eine Angleichung der handelsrechtlichen Bilanzierung an die Best-Estimate-Reservierung nach IFRS im Gange ist. Diese sukzessive Reduzierung­ der versicherungstechnischen Rückstellungen hat natürlich­ unmittelbaren Einfluss auf die versicherungstechnische Performance, weil die im Zuge der Rückstellungsauflösung erzielten Abwicklungsgewinne in die versicherungstechnische Gewinnbetrachtung Eingang finden.

Unterschiedliche Kostenentwicklung bei Kompositversicherern
Korrespondierend hierzu entwickeln sich die Betriebskosten in den drei Versicherungssparten. Besonders auffällig ist auch hier die durchaus unterschiedliche Kostenentwicklung bei den Komposit­versicherungen. Wie schon bei der signifikant abweichenden Schaden­quote ist die Erklärung auch hier der unterschiedliche Spartenmix im Bereich­ SHUK (Schaden, Haftpflicht, Unfall und Kfz). Da die Autoversicherung traditionell zu den am niedrigsten­ provisionierten Kompositzweigen zählt, ist das Kosten­ergebnis bei den VVaG deutlich geringer­ als bei den übrigen Rechtsformen.

Ein mit dem bisherigen Befund einer gleichförmigen Entwicklung der verschiedenen Rechtsformen ergibt sich darüber hinaus­ bei einer Betrachtung der versicherungstechnischen Gewinne in den verschiedenen­ Sparten. Während er in der Lebensversicherung seit 2003 durchaus parallel verläuft, ergibt sich in der Krankenver­sicherung und in der Sachversicherung ein bemerkens­werter Unterschied. Die unterschiedliche Gewinnerzielung im Bereich­ der Sachversicherung von 2000 bis 2002 wurde bereits erläutert.

VVaG thesauriert, AG nicht
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit steht das Medium der externen Finanzierung ausweislich der Regelungen des Paragrafen 53c VAG nur eingeschränkt zur Verfügung. Daher sind VVaG darauf ange­wiesen, aktuelle geschäftliche Entwicklungen, Akquisitionen und Modifizierungen aufsichtsrechtlicher Solvabilitätsbestimmungen vollständig im Wege der Innenfinanzierung zu bewältigen. Es kann daher nicht überraschen, dass bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit im Zuge der Gewinnverwendung die Thesaurierung von ganz zentraler Bedeutung ist. Im Gegensatz dazu haben Versicherungsaktiengesellschaften in den vergangenen Jahren praktisch keinen­ Ertrag mehr thesauriert. Dies wird besonders­ deutlich in der Entwicklung von 2004 bis 2012. In diesem Zeitraum haben Versicherungsaktiengesellschaften durchschnittlich Rücklagen aufgelöst, also mehr ausgeschüttet als dem in dieser Periode­ erzielten Ertrag entspricht. Im Gegensatz hierzu ist die Eigen­kapitalthesaurierung bei Versicherungsvereinen auf kontinuierlich hohem Niveau.

Vor dem Hintergrund dieser zum Teil erheblichen Dividendenzahlungen kann es nicht verwundern, dass die Solvabilitätsausstattung der Aktiengesellschaften und der Versicherungsvereine sich außer­ordentlich unterschiedlich entwickelt. War beispielsweise in der Krankensparte die durchschnittliche Solvabilitätsausstattung beider Rechtsformen 2000 mit einem Deckungsgrad von 260 Prozent noch identisch, so hat sich dies bis zum Jahr 2012 kontinuierlich verändert, mit der Folge, dass VVaGs mittlerweile bei über 340 Prozent angelangt sind, während die korrespondierende Solvenzbedeckung bei Aktien­gesellschaften auf 173 Prozent gesunken ist.

Die Aufteilung der Kapitalanlagen auf einzelne Anlageklassen unter­scheidet sich auf den ersten Blick deutlich zwischen den Aktien­gesellschaften und den VVaGs. So bilden die festverzinslichen Wert­papiere den weitaus größten Anlagesektor bei den VVaGs. Aktien und Investmentzertifikate spielen hier eine deutlich geringere Rolle. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass bei den zur Verfügung stehenden Auswertungen auch festverzinsliche Kapitalanlagen bei den Investmentzertifikaten enthalten sein können. Die vorliegende Daten­lage lässt somit letztendlich keine Aussage zu den Besonderheiten der Rechtsformen hinsichtlich der Anlageklassen zu.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass seit Kriegsende zumindest bis zum Jahr 2003 die versicherungstechnische Entwicklung der verschiedenen Rechtsformen nahezu identisch ist. Bei Versicherungsaktiengesellschaften haben schrittweise die Gewinnausschüttungen immer mehr an Bedeutung gewonnen, was partiell durch eine Reduzierung der Reservierungsquote finanziert wurde und darüber hinaus zu einer Verringerung der Solvenzmittel geführt hat. Bei Versicherungs­vereinen auf Gegenseitigkeit wird das Erfordernis der durchgängigen Innenfinanzierung offensichtlich mit Erfolg betrieben.­ Reservierungsquoten und Solvenzausstattung nehmen kontinuierlich und signifikant zu.

Keine Rechtsform ist besser als die andere
Ob die Rechtsform des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit  oder die der Aktiengesellschaft für die Bewältigung versicherungstechnischer Herausforderungen besser geeignet ist, lässt sich dem untersuchten Zahlenwerk nicht entnehmen. Fest steht jedenfalls, dass für beide Rechtsformen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mehr oder weniger identisch zu sein scheinen. Rechtsformspezifische Nachteile lassen sich nicht feststellen. Ein großer Allsparten-VVaG hat dieselben Herausforderungen zu bewältigen wie ein großer aktienrechtlich organisierter Allsparten-Versicherungskonzern. Demzufolge werden die Effizienz des Managements, die Kapitalmarkt­entwicklung und schlussendlich auch die politischen Rahmenbedingungen über die Zukunft von Versicherungsunternehmen entscheiden.­ Die Rechtsform des Versicherungsvereins ist hierbei „zukunfts­neutral“.

portfolio institutionell, Ausgabe 12/2014

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