Schwarzer Schwan
17. Juli 2015

Rette sich, wer kann

Halten Sie einen Moment inne. Die Märkte reiten auf einem Pulverfass.

Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, hat sich in einem Beitrag für die hauseigene Research-Publikation „Konzept“ im Juni über den Sinn und Zweck von Prognosen ausgelassen, dass die Funken nur so sprühen. „Von Wirtschaftslehre und Märkten bis zu Geopolitik und Demografie. Die ganze Welt scheint verzerrt. Und dennoch erstellen wir munter weiter Prognosen, als ob alles ganz normal wäre – obwohl die Renditen für europäische Staatsanleihen beispielsweise ihren niedrigsten Stand seit nahezu 500 Jahren erreicht haben“, moniert Folkerts-Landau.
Sein Weckruf an die Leser: „Halten Sie einen Moment inne. Nicht der niedrigste Stand seit Jahrzehnten oder seit dem Zweiten Weltkrieg oder seit hundert Jahren. Nein: Zinsen auf diesem Niveau haben wir seit 20 Generationen nicht gesehen!“ Dessen ungeachtet diskutierten Wirtschaftswissenschaftler über die aktuelle Situation im gewohnten Jargon und auf Basis vertrauter Theorien, ärgert sich der Deutschbanker. „Investoren schauen auf ihre Bildschirme, als ob die Entwicklungen nichts Besonderes wären.“ 
Dieses kollektive Nichtwahrhabenwollen sei beunruhigend. „In Amerika, Europa und Japan analysieren wir Quartalsdaten oder die kleinsten Details aus Ansprachen von Zentralbankvertretern und ignorieren dabei völlig eines der wohl größten Experimente aller Zeiten.“ Niemand wisse wirklich, welche Auswirkungen die quantitative Lockerung jetzt hat, geschweige denn, welche Folgen ihr Ende haben könnte. Zugleich kritisiert David Folkerts-Landau, dass es nicht normal sein könne, dass der variable Zinssatz mancher Hypothek in Portugal in den Negativ-Bereich abgerutscht ist und somit Kreditnehmer nun tatsächlich jeden Monat Zahlungen von ihrer Bank erhalten könnten. „Sie könnten also ein Haus kaufen und dafür bezahlt werden!“
Man kann sich den Deutschbanker bildlich vorstellen, wie er sich den Kopf zermartert, etwa über den Höhenflug der westlichen Aktienmärkte und die „irrsinnigen“ Immobilienpreise in London, New York, Kanada und Sydney. „Und wie ist es mit Technologieunternehmen wie Instagram“, fragt Folkerts-Landau, „deren Wert auf Milliarden von Dollar beziffert wird, ohne dass sie auch nur einen Cent Einnahmen vorwiesen können?“ In diese „Liste der beispiellosen Indikatoren“ gehören nach Einschätzung des Ökonomen auch die Rekordverschuldung der Industrienationen, der Volatilitätsindex, dessen Stand sich dem historischen Tief nähert, und die Verlangsamung des internationalen Handels gemessen am Anteil der weltweiten Wirtschaftsleistung.
Schwere Zeiten voraus
Klingt alles ein wenig nach einem Ritt auf dem Pulverfass und Weltuntergang, oder? In China jedenfalls hat so mancher Kleinanleger zuletzt bereits seinen eigenen Weltuntergang erlebt, wie der China-Korrespondent der Börsen-Zeitung, Norbert Hellmann, zu berichten weiß. Der chinesische Aktienmarkt hat nämlich nicht nur Bewertungen wie von Folkerts-Landau beschrieben, sondern auch „Tücken, die nur von denjenigen zu meistern sind, die entweder Nerven wie Drahtseile oder einfach unverschämtes Glück haben“, schreibt Hellmann. 
Laut einem Bericht der Tageszeitung „Die Welt“ wurden die im Shenzhen-500-Index versammelten Aktien im Mai 2015 im Schnitt mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 375 gehandelt. Das Blatt beruft sich auf Daten von Bloomberg. Zum Vergleich: Für die Konzerne des Dax wird ein KGV von 15 bezahlt.
Wie Börsen-Zeitungs-Korrespondent Hellmann wiederum ausführt, sind handelstägliche Kursbewegungen für einzelne Aktien auf zehn Prozent nach oben oder unten begrenzt. „Man sollte meinen, dass dies die Anleger vor allzu verrückten Bocksprüngen bewahrt, doch schafft es in einem ultravolatilen Markt Engpässe bei den Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten.“ Neubörsianer treibe das geradezu in den Wahnsinn. Wer den richtigen Zeitpunkt verpasst, müsse zusehen, wie seine Aktien jeden Tag aufs Neue wieder vom Start weg zehn Prozent fallen und der Markt für weitere Verkaufsorders geschlossen bleibt. „So kann man tagelang hilflos beobachten, wie einem das Geld durch die Finger rinnt, bis man doch irgendwann einmal rauskommt.“ Und wer nicht den richtigen Zeitpunkt für den Wiedereinstieg findet, erlebe ein umgekehrtes Drama, so Hellmann. 
Und hier schließt sich der Kreis: Westliche Analysten lassen nach Einschätzung Hellmanns Prognosen vom Stapel laufen, wie der Börsenboom die chinesische Wirtschaft beflügeln könnte oder das Platzen der Blase sie vollends aus der Spur bringt. „Die haben da möglicherweise etwas nicht verstanden“, so der Korrespondent. Wer der chinesischen Wirtschaft etwas Gutes tun will, brauche ein völlig seitwärts gerichtetes lethargisches Börsengeschehen, um das sich niemand kümmert. Dann erst nämlich können sich rund 100 Millionen Menschen wochentäglich zwischen 9.30 und 11.30 Uhr sowie 13.00 und 15.00 Uhr, wenn an den Märkten in Shanghai und Shenzhen der Punk abgeht, ausnahmsweise mal wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. Derzeit sehe es ein wenig anders aus: Der typische Shanghaier Büroangestellte versuche zu diesen Zeiten zu kaufen, was das Zeug hält, oder zu retten, was zu retten ist. Liebe Leser, Sie ahnen es: Auch dieser Punkt gehört zweifelsohne auf die Liste der beispiellosen Indikatoren. 
In diesem Sinne wünscht Ihnen die Redaktion von portfolio ein entspanntes Wochenende. 
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