Pensionskassen
20. Juni 2016

Schwellenländer: Risiken der Verschuldung

Die Emerging Markets haben zuletzt an Glanz verloren – nun mehren sich die Sorgen angesichts der hohen Unternehmensverschuldung. Dr. Mauricio Vargas, Volkswirt bei Union Investment, geht der Sache im Interview auf den Grund.

Herr Dr. Vargas, für Investoren haben die Emerging Markets zuletzt an Glanz verloren – nun mehren sich die Sorgen angesichts der hohen Unternehmensverschuldung. Wo kommen diese Sorgen her? 
Ein wesentlicher Grund dafür ist die Annahme, dass die jüngst durch die US-Zinspolitik verstärkten Währungsbewegungen die Schuldentragfähigkeit von Schwellenländerunternehmen erheblich belasten würden. In dieses Horn stießen zuletzt der Internationale Währungsfonds sowie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Beide haben auf die systemischen Risiken für die Weltwirtschaft hingewiesen. 
Die günstigen internationalen Refinanzierungsmöglichkeiten im Zuge der ultraexpansiven Geldpolitik der großen Notenbanken und insbesondere der US-Notenbank als Reaktion auf Finanz- und Weltwirtschaftskrise haben viele Unternehmen in Schwellenländern dazu verführt, Fremdkapital in US-Dollar aufzunehmen. 
So ist es. Besonders aktiv waren Unternehmen aus dem Rohstoffbereich. Das war zunächst unproblematisch und erschien schlüssig. Denn den Schulden in US-Dollar stehen Umsatzerlöse aus dem Rohstoffverkauf in derselben Währung gegenüber. Aufgrund der Kombination aus starker Abwertung der einheimischen Währung und dem Abverkauf der Rohstoffmärkte kam die Frage auf, wie es den Unternehmen wohl ergeht. 
Der brasilianische Ölkonzern Petrobras ist hier sicher ein Beispiel. Wie sehen Sie das? 
Ja, aber nicht überall weisen Unternehmen ihre Umsatzerlöse und ihre Verbindlichkeiten aus der Emission von Anleihen in einheitlicher Währung aus. Schauen Sie sich den Bausektor in der Türkei an. Der dortige Boom hat vielen Firmen enorme Geschäfte ermöglicht. Sie haben Aktiva in der Türkei aufgebaut. Auf der Passivseite der Bilanz haben die Konzerne aber Schulden im Ausland aufgenommen. Und wenn die Landeswährung dann abwertet, stellt sich die Frage, ob es die Unternehmen aushebelt. 
Und was sagen Sie? 
Wir haben analysiert, wie die systemischen Risiken zu bewerten sind. Die zentrale Frage war: Hebelt es die Staaten über die Verschuldung der Unternehmen aus? Sehen wir also eine Art Kettenreaktion? Lassen Sie uns zunächst einen Schritt zurückgehen. Wir haben in den Emerging Markets zuletzt den perfekten Sturm gesehen: Abverkauf der Rohstoffmärkte, Verschärfung der geldpolitischen Rahmenbedingungen ausgehend von den USA, Abschwächung Chinas. In der Historie war ein solcher perfekter Sturm für die Emerging Markets immer extrem gefährlich. Daher war es auch gerechtfertigt, sich große Sorgen zu machen, wie sich die Schwellenländer in diesem Zyklus verhalten. 
Wo liegen die Risiken? 
Jedenfalls nicht beim Staat, sondern bei den Unternehmen. Wir haben analysiert, wie die aufstrebenden Nationen auf die Verschlechterung der globalen Bedingungen reagieren. Wir haben wesentliche Änderungen im Vergleich zu früheren Krisenzyklen festgestellt. Ein Großteil der insgesamt aufgebauten Verschuldung ist in heimischer Währung denominiert. Das ist sowohl auf Seiten der Staaten als auch bei den Unternehmen der Fall. In Brasilien beispielsweise sind 90 Prozent der Staatsverschuldung im brasilianischen Real denominiert. In China wiederum wird seit geraumer Zeit aggressiv versucht, die Auslandsverschuldung im US-Dollar in den chinesischen Yuan umzuwandeln. 
Das heißt, die Erfahrungen, die die Länder in den vergangenen Jahrzehnten gemacht haben, dass ein kurzfristig günstiges Darlehen in Fremdwährung ein vergifteter Apfel ist, der die Finanzen bei Wechselkursbewegungen aushebelt, hat dazu geführt, dass der Großteil sehr stark auf heimisch denominierte Währung umgestellt hat. Auslandsverschuldung ist aber nicht gleich Auslandsverschuldung. Die Risiken der Verschuldung in den Emerging Markets können leicht fehlgedeutet werden. 
Das müssen Sie erläutern. 
Der Internationale Währungsfonds (IWF) erfasst die Kennzahlen zur Auslandsverschuldung auf Basis des „Ausländerprinzips“. Dabei werden alle Schulden berücksichtigt, die von Ausländern in Hartwährung oder lokaler Währung gehalten werden. Diese Auslandsverschuldung kann aber nicht mit der Fremdwährungsverschuldung gleichgesetzt werden. Mit Blick auf etwaige systemische Risiken sind vor allem die in Fremdwährung denominierten Schulden relevant, da sie von einer Abwertung der jeweiligen Landeswährung in der Regel besonders stark betroffen sind. Eine Analyse zeigt, dass die Fremdwährungsverschuldung gegenüber der Auslandsverschuldung, wie sie vom IWF publiziert wird, eine deutlich geringere Rolle spielt, weshalb nur geringe Ausfallrisiken drohen. 
Wenn man die systemischen Risiken bewertet, muss man demnach die Fremdwährungsverschuldung ansehen und nicht die Auslandsverschuldung per se? 
Ja, zumal die Auslandsverschuldung mit einer Abwertung der eigenen Währung sinkt. Hinzu kommt, dass sich im Gegensatz zu den wachsenden Schulden der Unternehmen die Staatsfinanzen in den vergangenen Jahren insgesamt solide entwickelt haben und viele Schwellenländer nach wie vor über erhebliche Devisenreserven verfügen, die von den oft staatlichen oder staatlich dominierten Unternehmen als Liquiditätspuffer herangezogen werden können. Die Schwellenländer sind diesmal besser für Turbulenzen gewappnet als während vergangener Krisen. Denn sie haben sich diesmal nicht gegen den auf den Landeswährungen lastenden Abwertungsdruck gestemmt, sondern Abwertungen der eigenen Währung zugelassen und so das „Pulver“ – die Devisenreserven – trocken gehalten. Folglich ist auch die Gefahr gering, dass die Unternehmen vom Zugang zu liquiden Mitteln in US-Dollar abgeschnitten werden. 
Würden Sie auch das bitte näher erläutern. 
Die Länder haben natürlich nicht selbst aktiv dafür gesorgt, dass ihre Währung schwächer wird, vielmehr hat die Verschlechterung der Rahmenbedingungen dafür gesorgt, dass sich die Kapitalflüsse umgekehrt haben. Die Staaten haben sich diesmal allerdings nicht gegen diese strukturelle Verschlechterung gestellt. Sie haben zugelassen, dass ihre Währung abwertet, sie haben nicht mit Käufen ihrer Währungen mit Hilfe von Devisen versucht, ihre Währung zu stützen. Das war in der Vergangenheit anders. Früher gab es häufig Währungsanbindungen. Und als es dann zu einer Umkehr der Kapitalflüsse kam, haben sie versucht, mit den aufgebauten Fremdwährungsreserven die Anbindung zu verteidigen. Aber das ist ein sehr gefährliches Spiel. Denn man ist als Land relativ berechenbar und ist für Spekulationen anfällig. Schließlich kann man relativ genau ausrechnen, wie lange es dauert, bis die Währungsreserven aufgebraucht sind und dann die Währung tatsächlich freigegeben werden muss. 
Schlussendlich stehen die betreffenden Staaten ohne Devisenreserven da und müssen die Abwertung – viel schlimmer – hinnehmen, weil sie dann kein Pulver mehr haben, um Fremdwährungsverbindlichkeiten zu bedienen. 
So ist es. In der jüngeren Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Staaten die Abwertung ihrer Währung hingenommen haben. Und das, was man als Devisenreserven aufgebaut hatte, hat man nicht verschleudert und verpulvert, um sich irrational gegen diese Entwicklung zu stellen. Damit hat man sichergestellt, dass das Volumen der vorhandenen Devisenreserven immer noch größer ist als das, was die Länder insgesamt an Fremdwährungsverschuldung haben. Die Länder stellen damit sicher, dass sie in keine Liquiditäts- oder Refinanzierungsnöte kommen, falls der internationale Refinanzierungsmarkt für Fremdwährungen austrocknet. 
Bitte geben Sie ein Beispiel. 
Schauen Sie sich Brasilien an. Petrobras hat eine Verschuldung in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar. Der Staat wiederum hat Devisenreserven von etwa 350 Milliarden US-Dollar. Die Währungsreserven wurden nicht dazu genutzt, um die Abwertung des Reals aufzuhalten, sondern man hat dieses Pulver trocken gehalten. Die Abwertung ließ man sozusagen durch das System laufen. Inzwischen hat die Landeswährung 60 bis 70 Prozent abgewertet. Aber die Dollar-Reserven existieren noch, um die Dollar-Verbindlichkeiten, die zudem nicht über den Fremdwährungsreserven liegen, zu adressieren. Es ist eine Art Asset-Liability-Match. 
Das heißt, die Gefahr systemischer Unfälle wurde in der Breite mit Hilfe wirtschaftspolitischer Maßnahmen adressiert. Wir haben deshalb keine großen Zahlungsausfälle gesehen! Und mit Blick nach vorne kann man sagen, dass die Abwertung der einheimischen Währung die Länder wieder wettbewerbsfähig macht. 
Zwischenfazit: Es waren schwere Jahre für die aufstrebenden Nationen. Aber der perfekte Sturm hat nicht dazu geführt, dass sie kollabieren, sondern sie haben mit richtigen Maßnahmen darauf reagiert. Wir gehen davon aus, dass bei den Emerging Markets jetzt der Boden erreicht sein sollte. Als langfristig orientierter strategischer Investor sollte man sich jetzt wieder mit ihnen beschäftigen, gerade wenn man sich den anhaltenden Anlagedruck vor Augen führt. 
Sie sind also der Meinung, dass der Boden erreicht wurde. Doch wie begründen Sie das? 
Es kam zu einer Anpassungsrezession. Wir gehen davon aus, dass die Abwärtsrevisionen für das Wachstum der Schwellenländer ihren Boden gefunden haben. Und damit meine ich das Gros der Schwellenländer. China würde ich an dieser Stelle außen vorlassen, weil das Land einer eigenen Logik folgt – mit Anpassungen und Wachstumssteuerung. Dennoch ist folgendes zu beachten: Obwohl mögliche Währungsabwertungen gegenwärtig kein erhebliches Risiko weder für Emerging-Markets-Unternehmensanleihen noch für die Schwellenländer in ihrer Gesamtheit darstellen, können die hohen Schuldenstände perspektivisch zur Wachstumsbremse werden – erst recht vor dem Hintergrund einer schwächelnden chinesischen Wirtschaft und einer angespannten Lage an den Rohstoffmärkten. Trotz der heftigen Kapitalmarktturbulenzen und der Abwertung von Schwellenländerwährungen droht Investoren aber kein systemisches Risiko. 
Schwellenländerinvestments sollten meines Erachtens weiterhin Bestandteil eines gut diversifizierten Portfolios sein. Dies gilt auch für das Segment der Emerging-Markets-Unternehmensanleihen. Mit zu erwartenden Wachstumsraten von vier Prozent in diesem Jahr gehören die Schwellenländer zu den Regionen, in denen Investoren nach wie vor die Chance auf den dringend benötigten Mehrertrag haben. 
Auch in Russland kam die Landeswährung unter Druck. 
Das Beispiel Russland macht sehr schön deutlich, wie ein Land auf einen Schock reagieren kann: Die Unternehmen haben Schulden in US-Dollar aufgenommen, der Staats hat Fremdwährungsreserven. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft sinken in US-Dollar. Der Rubel wertet ab, die Notenbank stemmt sich aber nicht dagegen, sondern bietet den vom globalen Kapitalmarkt abgeschotteten Unternehmen an, sie mit US-Dollar zu unterstützen. Natürlich sorgte der Verfall des Rubels dafür, dass die Kaufkraft der Russen und der Import westlicher Konsumgüter unter die Räder kamen. Hätte Russland sich mit Händen und Füßen gegen die Abwertung gestemmt, dann wären die enormen Devisenreserven des Landes binnen ein oder zwei Jahren aufgebraucht. Dann wäre der große Crash gekommen und man hätte gar nichts mehr gehabt. 
Wo ist der Link von den Schwellenländern zur Politik der US-Notenbank Federal Reserve? 
Als Hintergrund dafür muss man sich einerseits vor Augen führen, welche Rolle der US-Dollar global spielt, und zwar als Denominierungsfaktor für die Finanzmärkte, für Rohstoffe und die Exportfinanzierung. Und andererseits muss man sehen, welche Rolle die Realwirtschaft der USA im weltwirtschaftlichen Kontext hat. Die Rolle der USA in ihrer weltwirtschaftlichen Bedeutung ist in den vergangenen Jahren geschrumpft. Die USA stehen für etwa 20 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Der US-Dollar wiederum hat für die internationalen Finanzmärkte ganz enorme Bedeutung. Er ist so omnipräsent wie fast noch nie zuvor. Zumal der Euro auf globaler Ebene durch die Euro-Krise geschwächt ist. Die weltweiten Devisenreserven sind zwischen 60 und 70 Prozent in US-Dollar denominiert. Das kann man als Proxy dafür sehen, welche Rolle er einnimmt. Etwa 80 Prozent der globalen Finanztransaktionen haben einen Bezug zum US-Dollar. 
Ist die Geldpolitik der Federal Reserve heute etwas Besonderes? 
Ja. Die Besonderheit der Geldpolitik der USA rührt insbesondere daher, dass heute eine Situation besteht, die ein historisches Novum ist. Der Rest der Welt ist in Niedrigwachstum, Stagnation und Deflation gefangen. Die US-Volkswirtschaft hingegen ist die einzige, die die Fantasie beziehungsweise die Hoffnung hat, sich zu normalisieren. Und das betrifft auch den Wunsch zur Normalisierung bei der Geldpolitik. An der Stelle stellt sich mir die Frage, inwiefern die US-Wirtschaft in der Lage ist, die ganze Welt mitzuziehen, so dass sich jeder gewissermaßen ein bisschen Wachstum und ein bisschen Inflation von den USA holen kann. Wir sehen, dass das nicht funktioniert. Denn sobald die USA die Zinsen erhöht oder auch nur die Erwartung von Zinserhöhungen in den Markt kommt, sehen wir sofort einen starken US-Dollar, der wiederum die konjunkturelle Dynamik in den USA selbst abzuwürgen droht. 
Das heißt, es bewegen sich weniger die Zinsen am langen Ende als vielmehr der US-Dollar. Und das hat damit zu tun, dass – sobald die Fantasie auf höhere Zinsen in den USA kommt – in einer Welt der Niedrigzinsen und des Anlagedrucks sofort Kapitalflüsse in die USA strömen, den US-Dollar damit in die Höhe treiben und damit das Bild, das zur Zinserhöhung geführt hat, wieder infrage stellen. Der starke US-Dollar senkt die Inflation, dadurch dass importierte Produkte im Preis sinken. Und der starke US-Dollar macht den Exporteuren zu schaffen. Das ist also die Kehrseite dessen, was die anderen Länder machen. Sie versuchen Wachstumsimpulse von außen zu holen. Aber wenn alle versuchen, eine schwache Währung zu haben, außer der US-Dollar, dann versuchen alle, von den Amerikanern Wachstumsimpulse zu holen. Und dafür ist die USA inzwischen wirtschaftlich zu klein, als dass sie die ganze Welt mit Wachstum versorgen könnte, ohne dass sie selber in die Knie gezwungen wird. 
Aber was bedeutet das für die Schwellenländer? 
Für die Emerging Markets bedeutet die Politik der Federal Reserve, dass sich eine Zinserhöhung in einem stärkeren US-Dollar niederschlägt, dieser wiederum auf den globalen Handel wirkt, weil alle Emerging Markets mit Ausnahme der osteuropäischen Länder, ihre Ausfuhren in US-Dollar fakturieren. Der starke US-Dollar hat einen massiven rezessiven Einfluss auf den Welthandel, der in US-Dollar denominiert ist. Ein wesentlicher Teil der Rohstoffschwäche folgt auch aus der Dollar-Stärke. Jenseits von Angebot und Nachfrage sinken die Rohstoffpreise, wenn der Dollar stärker wird – und umgekehrt. 
Warum ist das so? 
Das liegt an der Denominierung der Rohstoffe in US-Dollar. Und das ist der nächste negative Impuls, den sie auf die Emerging Markets haben. Denn diese sind mehrheitlich Rohstoffexporteure. Zuletzt zeigt sich ein weiterer Effekt, wie die US-Geldpoltik die Schwellenländer beeinflusst: Immer wenn der Dollar stark war, sind Mittel aus den Schwellenländern herausgeflossen. Damit bekommen die Länder ein weiteres Wachstumsproblem, da die Refinanzierungsbedingungen durch den Kapitalabzug erschwert werden. Demnach wirkt die Politik der Federal Reserve über drei Kanäle auf die Emerging Markets: die Denominierung im Welthandel, die Denominierung bei Rohstoffen und die Beeinflussung von Kapitalflüssen. 
Die Besonderheit heute ist, dass die US-Notenbankpolitik den US-Dollar treibt wie nie zuvor. Grund dafür ist, dass die USA sich solitär in eine Richtung der geldpoltischen Straffung bewegen, während alle anderen Volkswirtschaften in einer anderen Realität sind. Würden wir heute in einem globalen inflationären Umfeld sein, wäre die Zinserhöhung der Fed kein Problem. 
Das Interview führte Tobias Bürger. 
portfolio institutionell newsflash 20.06.2016/Tobias Bürger
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