Alternative Anlagen
10. Juli 2014

Wirtschaftshistorische Überlegungen zu Staatschulden, Schuldenabbau und deren Folgen

Das Schuldenregime dominiert in Europa das politische Handeln. Zur Entschuldung gibt es grundsätzlich viele Möglichkeiten – auch ohne Enteignung der Gläubiger. Dies zeigt zum Beispiel die ­Sanierung des sächsischen Kurfürstentums vor 250 Jahren, die Investoren­ zudem eine Erweiterung des Anlagespektrums brachte.

Gastbeitrag von Werner Plumpe, ordentlicher Professor am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main
Die Wirtschafts- und Finanzgeschichte zeigt in zahlreichen ­Beispielen, dass unbewältigte Schuldenkrisen mit der Enteignung des Publikums enden. Dabei hängen Form und Ausmaß der Enteignung einerseits an der Höhe der Staatsverschuldung, andererseits an ihrer Art. War die Obrigkeit gegenüber einzelnen Gläubigern beziehungsweise gegenüber auswärtigen Geldgebern stark verschuldet (ältere und frühneuzeitliche Geschichte), so war der Ruin der kreditgebenden Bankhäuser in der Folge von Zahlungsausfällen die Regel (englische Krone und das Bankhaus Peruzzi im 14. Jahrhundert, spanische Krone und die Genueser beziehungsweise oberdeutschen ­Bankhäuser im 16. und 17. Jahrhundert), zum Teil wurden auch die Gläubiger, konnte man ihrer unmittelbar habhaft werden, physisch bedroht ­(Judenpogrome). Mit der Entstehung einer modernen ­Finanzwirtschaft ab dem 18. Jahrhundert wurden willkürliche ­„Entschuldungsaktionen“ seltener; an ihre Stelle trat der mehr oder weniger formelle Staatsbankrott.
Das Ergebnis blieb und bleibt freilich das Gleiche: Bei ­starker Auslandsverschuldung der Staaten kam und kommt es zu Schuldenschnitten (Gläubigerenteignungen), die auch im 19. und 20. Jahrhundert der häufigste Fall bei starker Auslandsverschuldung waren. Anders sah und sieht die Frage der Entschuldung bei starker ­Verschuldung gegenüber einem breiteren heimischen Publikum aus, also gegenüber Menschen, die zugleich der bürokratischen und legislativen Hoheit der Obrigkeit unterworfen sind, der sie Geld geliehen haben. Hier finden sich Enteignungsphänomene über staatlich institutionalisierte Spekulationsblasen und Inflationen, also mehr oder weniger staatlich veranlasste Geldentwertungen, durch die auch der Wert der Schulden drastisch sinkt (England und Frankreich nach dem Spanischen Erbfolgekrieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Law’scher Schwindel, South Sea Bubble), oder offene beziehungsweise verdeckte­ Inflationen (Assignatenschwindel in Frankreich um 1807, große Inflation 1923/24 und Währungsreform 1948 in Deutschland). Vor allem Deutschland im 20. Jahrhundert ist hierfür ein schlagendes Beispiel, weil zweimal über offene beziehungsweise verdeckte Inflation die Kosten eines Krieges auf Sparer und Steuerzahler abgeladen wurden.

Die Kosten des Ersten Weltkrieges wurden nur zum Teil über ­konsolidierte Anleihen, zu einem wachsenden Teil aber über eine Ausweitung der schwebenden Schuld finanziert. An diesem Modus der Finanzierung wurde auch nach dem Krieg, zunächst sogar mit wirtschaftlich relativ günstigen Folgen, festgehalten, bis die mehr oder weniger unkontrollierte Ausweitung der Geldmenge unter den Beding­ungen des internationalen Reparationsregimes schließlich in eine offene und galoppierende Inflation überging. In deren Ergebnis waren für einen Dollar schließlich mehr als vier Billionen Papiermark zu zahlen. Die Inflation entwertete die zuvor angehäufte Staatsschuld, und zwar sowohl die konsolidierte Anleiheschuld wie die schwebende Verschuldung, fast vollständig. Die Geschädigten waren vor allem ­jene bürgerlichen Mittelschichten, die während des Krieges in gutem Glauben ihr Vermögen in eine oder mehrere der neun großen Kriegsanleihen gesteckt hatten und diese nach Kriegsende nicht rechtzeitig hatten verwerten können.

Die Wirkung dieser Massenenteignung für die politische Stabilität der Weimarer Republik ist kaum zu über­schätzen. Die National­sozialisten glaubten hieraus lernen zu müssen. Sie betrieben eine Art „geräuschloser Kriegsfinanzierung“, die ohne öffentliche Anleihen auskam, weil alle institutionellen Anleger ­gezwungen wurden, ihre Gelder in Staatspapieren anzulegen. ­Während des Krieges wurde ­zusätzlich erneut die Geldpresse genutzt. Zum Kriegsende kam es zu einem faktisch völligen Wertverlust der Reichsmark. Die Währungs­reform vom Frühsommer 1948 zog einen Strich unter diese Entwicklung: Die Schulden wurden gestrichen, ebenso die monetären Gut­haben. Von 100 Reichsmark blieben schließlich 6,50 D-Mark übrig.

Spiel auf Zeit 
Andere Länder, die aus dem Krieg als Sieger hervorgingen, ­machten zumindest teilweise andere Erfahrungen. In den USA und Großbritannien gelang es, die starke Kriegsverschuldung durch die ­sogenannte finanzielle Repression (niedrigverzinste Zwangsanleihen) abzubauen. Für deren „geräuschlosen“ Vollzug war neben einem ­bemerkbaren Wirtschaftswachstum das gleichzeitige, zumindest zeitweilige Einstellen der Neuverschuldung Voraussetzung. Auf diese Weise fand zwar auch eine Enteignung der Sparer und Anleger statt, doch verschwand sie in gewisser Hinsicht im allgemeinen Aufschwung, war also eher eine Dämpfung des Vermögenszuwachses als eine offen spürbare Enteignung. Dass derzeit die Hoffnung besteht, niedrige Zinsen, eine moderate Inflation und ein zumindest bemerkbares Wirtschaftswachstum könnten der Königsweg aus der aktuellen Verschuldungskrise sein, der daher wohl auch politisch angestrebt wird, ist freilich so nachvollziehbar wie unrealistisch. Denn weder zeichnet sich ein dauerhafter Wachstumsboom ab, der den Jahren des Wirtschaftswunders auch nur annähernd vergleichbar wäre, noch ­besteht die Bereitschaft, die Verschuldung abzubauen. Im Grunde bleibt nur das harte Sparen und die Umstellung der Finanzierung der Staatsaufgaben auf eine solidere Grundlage. Dies kann freilich wegen der dann notwendigen Schrumpfung des Staates überaus unpopulär sein und ist daher bei den stets wählkämpfenden Parteien, die sich zudem in der Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit unentwirrbar verstrickt haben, nicht beliebt. Sie wählen lieber den Ausweg über die Inflation, in diesem Fall also über die monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB, und hoffen, dass irgendwann die Konjunktur anspringt. Das wird nicht funktionieren, zumal dann, wenn die Konjunktur ­anspringt, unmittelbar die Gefahr einer inflationären Blase droht. Sich Zeit zu kaufen, ist daher vielleicht politisch opportun, wirtschaftlich vernünftig ist es nicht.

Es geht auch anders: das kursächsische Rétablissement
Im Folgenden soll ein historischer Fall vorgestellt werden, der die ­Erinnerung lohnt, nicht allein, weil das kursächsische Rétablissement im November 1763, also vor ziemlich genau 250 Jahren begann, ­sondern auch weil es zeigt, dass man mit Sparsamkeit und Haushaltsdisziplin einen fast heillos im Schuldensumpf steckenden Staat ­innerhalb recht kurzer Zeit wieder handlungsfähig machen kann. Das kursächsische Beispiel zeigt aber vor allem eines: Man muss es wollen und hierfür die nötige politische Rückendeckung besitzen. Dann geht durchaus sehr viel, und das muss vor allem eines nicht bedeuten: wirtschaftliche Stagnation, wie sie heute für den Fall staatlicher Austeritätspolitik überall an die Wand gemalt wird.

Die am kursächsischen Beispiel zu besprechende Variante der Entschuldung kam ohne vollständige Enteignung der Gläubiger aus. Sie war keineswegs ein sächsisches Unikat. Vielmehr finden sich ähnliche Entschuldungen in der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem auch in England und Preußen, aber auch im nachnapoleonischen Frankreich, wobei der Kern ­jedesmal in der Etablierung einer regulären Schuldenverwaltung und in einer grundlegenden Änderung der Finanzpolitik bestand. Letztlich war es die strikte Budgetbegrenzung, die die erfolgreiche Sanierung einer chronisch überschuldeten und durch den Krieg ruinierten Obrigkeit ermöglichte, verbunden mit einer konservativen Schuldenpolitik, an der zumindest zeitweilig konsequent festgehalten wurde.

Wesentliche Elemente dieser Politik im sächsischen Fall waren: Schuldenzwangskonversion zu Titeln mit niedrigerem Zins (also ein begrenzter Schuldenschnitt), Ausweis eines Schuldentilgungsfonds, systematische Tilgung und Nutzung der wachsenden Spielräume zu weiterer Tilgung, Verzicht auf neue Schulden, Steuererhöhungen. In allen drei Fällen (Sachsen, Preußen, Vereinigtes Königreich) waren diese Entschuldungsmaßnahmen erfolgreich, hingen aber letztlich davon ab, dass die jeweiligen Regierungen eine harte Sparpolitik ohne parlamentarischen Widerstand durchsetzen konnten. Der sächsische Fall, in Deutschland heute kaum mehr bekannt, ist überaus lehrreich. Auch deshalb, weil dort die Sanierung der Staatsfinanzen nicht allein wegen ihrer kriegsbedingten Zerrüttung notwendig wurde, sondern weil bereits vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges von 1756 bis 1763 die ­Finanzpolitik unter dem verantwortlichen Premierminister, dem ­Grafen Brühl, das Land weitgehend ruiniert hatte. Es mussten ständig neue Schulden gemacht werden, um alte Schulden abzulösen und ­zusätzliche Ausgaben zu finanzieren. Das aufwendige und luxuriöse höfische Leben inklusive italienischer Hofoper, zahlreicher Feiern und Feste mit grandiosen Feuerwerken und umfangreicher Bautätigkeit hatte eben seinen Preis.

Den Bürgern neue Steuern abzupressen, war nicht leicht. Die „Steuerschulden“, heute würde man von konsolidierter Schuld ­sprechen, waren aber beileibe nicht das einzige Problem. Zugleich häufte das Land eine Vielzahl weiterer Schulden gegenüber Hand­werkern und Lieferanten an. Besonders fatal war diese Schulden­macherei im Falle der mildtätigen Stiftungen (piae causae), der Universitäten und anderer Einrichtungen, die ihr Vermögen dem Land liehen, um mit den daraus zu ziehenden Zinsen ihre Ausgaben zu ­bestreiten. Die Verschuldungspolitik unter Graf Brühl traf mithin nicht nur „normale“ Gläubiger; sie tendierte auch dazu, die soziale ­Infrastruktur des Landes, die eben an den regelmäßigen Zins­zahlungen hing, zu ruinieren. Ende der 1740er Jahre war auf diese Weise nicht nur den Hof völlig überschuldet. Auch das Land ächzte unter den Folgen der überaus unsoliden Finanzpolitik. Der verlorene Siebenjährige Krieg brachte dann 1763 den endgültigen Zusammenbruch dieser Schuldenwirtschaft.

Staatsfinanzen in Bürgerhand
Mit dem Hubertusburger Frieden, in dem Sachsen zudem an Preußen Kontributionen zu zahlen hatte, stand das Land vor dem Scherbenhaufen; der Tod des Kurfürsten und des Premierministers, beide starben im Oktober 1763, machte aber zugleich den Weg für ­einen Neuanfang frei. Diese Restaurierungskommission war das Werk des früheren sächsischen Rates Thomas von Fritsch, der 1741 wegen Brühl den Dienst quittiert und in den Dienst des Reiches (Reichshofrat) getreten war. Der Leipziger Buchhändlersohn, der im Dienste des Reiches geadelt worden war, drang auf eine gezielte ­Sanierung des sächsischen Staates, insbesondere seiner Finanzen, wobei er sich schließlich der Rückendeckung des kurfürstlichen ­Administrators beziehungsweise des neuen Kurfürsten, Friedrich ­August III., sicher sein konnte. Auf diese Weise kam es innerhalb ­eines Jahres faktisch zum Austausch des gesamten Personals in der Finanzverwaltung und seiner Ersetzung durch bürgerliche Experten. So wurde nicht allein eine grundlegende Reform eingeleitet, sondern auch der bislang dominante Hofadel, der den Bankrott zu verantworten hatte, verdrängt und die erste strikte staatliche Finanz- und ­Schuldenpolitik in Deutschland durchgesetzt.

Worin bestand nun dieses Rétablissement? Deutlichster Ausdruck in finanzpolitischer Hinsicht war die 1773 etablierte Generallandeskasse, die das bisher zersplitterte kursächsische Finanzwesen unter einem Dach zentral zusammenfasste. Damit wurde erstmals eine ­einheitliche Finanz- und Schuldenpolitik möglich. In materieller ­Hinsicht waren die Schritte, die ab 1764 ergriffen wurden, von den Erkenntnissen­ der zeitgenössischen Kameral- und Finanzwissen­schaften zur Reorganisation des Staatskredites geleitet. Es war klar, dass Kursachsen die Staatsschuld zum Nennwert nicht bedienen konnte. Daher wurde allen Gläubigern das Angebot gemacht, die ­bestehenden Papiere in einheitliche Schuldpapiere umzutauschen, wobei zugleich – freilich gegen das Versprechen regelmäßiger ­Zahlung – der Durchschnittszinssatz gesenkt werden konnte. ­Angesichts der Glaubwürdigkeit der sächsischen Zusagen ließ sich die Mehrzahl der Gläubiger, zum Teil allerdings erst nach ­langwierigen und schwierigen Verhandlungen, hierauf ein. Somit sank der Nominalwert der Schuld, die nun aber ernsthaft zu bedienen war. Durch die Konversion wurden die nunmehr einheitlich gestückelten, mit festen Zins- und Rückzahlungsterminen ausgestatteten sächsischen Schuldtitel erstmals börsenhandelsfähig. Hierdurch stellte sich nach einiger Zeit etwa an der Leipziger Börse ein lebhafter Handel ein, in dem sächsische Titel sehr rasch an Wert zulegten, da sich Kursachsen ­penibel an seine Zahlungsverpflichtungen hielt. Entsprechend ­sanken allein die Schulden der ehemaligen Steuerkasse von etwa 30 ­Millionen Taler 1764 auf 7,5 Millionen Taler 1806. Gleichzeitig stiegen die ­Börsenkurse fast aller sächsischen Staatspapiere, die ab etwa 1790 ­alle über Pari gehandelt wurden. Ende der 1770er Jahre lag der Kurs bei etwa­ 90 Prozent und Ende 1764 noch bei 58 Prozent.

Möglich wurde diese positive Entwicklung vor allem durch die ­Dotation eines Schuldentilgungsfonds, mit dem die Zinszahlungen gedeckt und zunächst geringe, im Laufe der Zeit zunehmende, ­Tilgungen vorgenommen wurden. Hierdurch veränderte sich das ­Verhältnis, da in den nächsten 30 Jahren keine neuen Schulden ­gemacht wurden, zwischen Zinszahlungen und Tilgung ständig ­zugunsten der Tilgung. Der Kursverlauf zeigte, dass der Markt ­schließlich sogar mehr sächsische Titel aufgenommen hätte, es der sächsischen Regierung also leichtgefallen wäre, neue Kredite aufzunehmen. Doch die Staatsregierung hielt an ihrer strikten Haushaltsdisziplin fest; die Zeiten der italienischen Hofoper, der Feste und ­Feuerwerke, der Prachtbauten und der unkontrollierten Apanagen war nach 1763 in Sachsen endgültig vorbei.

Investitionen, Infrastruktur, Industrialisierung
Bereits zehn Jahre nach dem Hubertusburger Frieden erzielte Kursachsen einen Haushaltsüberschuss. Das Land war dazu in der Lage, durch Investitionen in die Infrastruktur und das Bildungs­system die Voraussetzungen und Bedingungen für die Industrialisierung Sachsens zu verbessern und zu konsolidieren. Insofern war es nun auch möglich und zwingend, eine reguläre Ausgabenpolitik zu betreiben und von den Einzelzuwendungen und Stiftungen beziehungsweise Zinszahlungen wegzukommen, mit denen sich zuvor vor allem die Bildungsanstalten des Landes durchgeschlagen hatten. Die unsystematische Art der Finanzierung entfiel. Insofern brachte die ­Finanzreform nun, gemessen am Beispiel der Bildungspolitik, auch eine Verstetigung der staatlichen Ausgaben und damit der Politik ­generell, die sich erstmals modernen Budgetstrukturen annäherte.
Dass die Sanierung so schnell und zugleich so durchgreifend gelang,­ hing zum einen mit der Tatsache, dass die alte Misswirtschaft völlig diskreditiert war und dem sich nun lautstark meldenden Bürgertum das gesamte Wissen der seinerzeit modernen Kameralistik zur Verfügung stand, zum anderen zweifellos auch mit der günstigen Wirtschaftsstruktur Sachsens ­zusammen. Aufgrund seines Rohstoffreichtums, der Bevölkerungs­dichte und der guten agrarischen Bedingungen im nördlichen ­Sachsen war das Land vergleichsweise verstädtert­ und besaß wirtschafts­bürgerliche Zentren von erheb­lichem Gewicht, die durch die beginnende Industrialisierung zusätzlich an Bedeutung gewannen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stand, um einen modernen ­Ausdruck zu benutzen, zu keinem Zeitpunkt infrage.

Der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes tat die Finanzdisziplin keinen ­Abbruch. Im Gegenteil: Mangels Anlagemöglichkeiten in Staatspapieren suchte das vorhandene Kapital nach anderen Möglichkeiten und fand sie auch in der aufstrebenden sächsischen Industrie. Dass Sachsen zum ersten Zentrum der Industrialisierung in Deutschland wurde, lag nicht nur an der ­Finanzpolitik des Staates, ist aber ohne sie eben auch nicht vorstellbar. Ein Problem der frühen Industrialisierung war in Deutschland der relative Kapitalmangel, da Privat­anleger vor einem riskanten industriellen ­Engagement zurückschreckten und Immobilieninvestitionen sowie vermeintlich sichere Staatstitel vorzogen. Der Immobiliensektor blieb auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch der bevorzugte Anlagen­bereich. Doch die Knappheit an Staatstiteln dürfte in den 1820er bis 1840er Jahren erheblich dazu beigetragen haben, Kapital in die Industrie beziehungsweise in die großen ­Infrastrukturprojekte der Zeit zu lenken. ­Diese Erfahrung machte man in Sachsen ­bereits seit den 1770er Jahren. Die großen ­Eisenbahnprojekte der 1830er und 1840er Jahre wurden durch private Aktiengesellschaften getragen.

Im Übrigen: Englisches Kapital finanzierte nicht allein den Ausbau der Infrastruktur im eigenen Land; es stand auch für einen ­großen Teil der Projekte, mit denen die USA überhaupt erst zu einem attraktiven Standort wurden. Dass dort bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ein dichtes und effizientes Schienen­netz ­existierte, das zu den größten Hoffnungen Anlass gab, war eine Folge der Bereitschaft des englischen Kapitals, sich dort zu enga­gieren. Den Regierungen Sachsens, Preußens, aber wohl auch Großbritanniens fiel diese Art der Sanierung zwischen 1763 und 1848 freilich auch deshalb leichter, weil sie noch nicht, zumindest aber nicht vollständig,­ parlamentarisch und schon gar demokratisch kontrolliert waren. Unter den Bedingungen der modernen Demokratie wäre­ ein radikaler Wechsel, wie ihn das kursächsische Rétablissement vollzog, unter Umständen kaum möglich gewesen.

Das macht es fraglich, ob sich diese Beispiele gelungener Sanierungen ohne weiteres verallgemeinern lassen. Gegenwärtige Regierungen können keineswegs einfach nach dem Muster der besten Sachlösung handeln, ­zumal die zu kürzenden Ausgaben heute nicht vorrangig die Hofoper, die Feuer­werke, das Militär und die Apanagen betreffen.­ ­Angesichts der gegenwärtigen Haushalte und ihrer Finanzierungsstrukturen hieße ­eine deutliche Beschneidung der Staatstätigkeit zuerst und vor allem Reduktion­ der ­Sozial- und der Bürokratieausgaben. Dies ist einer Öffentlichkeit, die im Staat den Arbeitgeber­ beziehungsweise den sozial­politischen Apparat sieht, keineswegs einfach zu vermitteln. Die historischen Beispiele­ zeigen aber, dass Sparsamkeit wirtschaftlich nicht unbedingt nachteilig sein muss. Das Geld ­verschwindet dadurch ja nicht, es wird nur anders verwendet. Und das kann durchaus positive Folgen haben.

portfolio institutionell, Ausgabe 6/2014

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