23. November 2016

Revolution entlang der Wertschöpfungskette

Neue Technologien und die sie kommerzialisierenden Anbieter ver­ändern die Rahmenbedingungen im Asset Management und in der Assekuranz. Spielt der Mensch bald nur noch die zweite Geige? Macht er sich womöglich überflüssig? Oder übernimmt er Aufgaben, an ­denen selbst Großrechner scheitern?

Seit geraumer Zeit greift die Digitalisierung in der Realwirtschaft um sich. Ein Stichwort lautet dabei „Industrie 4.0“: Das heißt nichts anderes, als dass die industrielle Produktion mit ­moderner ­Informations- und Kommunikationstechnik verzahnt werden soll. Prominentes Beispiel ist der Stahlhändler Klöckner. Die ­technische Grundlage hierfür bilden digital vernetzte, „intelligente“ Systeme. Mit ihrer ­Hilfe soll eine selbstorganisierte Produktion möglich werden: Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommuni­zieren und ­kooperieren. Längst diskutieren Vordenker aber auch ­darüber, wie man sich wohl die Industrie 5.0 ­vorstellen muss und ­welche bahnbrechenden Fortschritte im Sinne der Produktivität ­damit einhergehen.

Auch im Asset Management beschäftigt man sich mit der Digitalisierung. Nach Angaben von Allianz Global Investors (AGI) ist das „bereits seit Jahren ein Thema, auch wenn dies vielfach nach außen hin nicht so sichtbar ist“, antwortet der Asset Manager der Allianz und ergänzt: „Letzteres liegt zum Teil daran, dass das Asset Management in vielen Fällen immer noch ein B2B2C-Business ist.“ Doch wie muss man sich die Digitalisierung vorstellen? Wie in anderen Branchen auch betrifft das zum einen sämtliche internen Prozesse. Dies reicht laut Allianz Global Investors von einer „State-of-the-Art-­Kollaboration global aufgestellter Fondsmanagement- und ­Research-Einheiten bis hin zur Effizienzsteigerung im Back-Office.“
Die erste Stellschraube – und gleichzeitig auch ein kritischer Erfolgsfaktor – ist auch hier die optimale Vernetzung digitaler und physischer Schnittstellen. Personalisierte Kundenportale gelten dabei als essentiell, sagt AGI. Zweite erfolgskritische Stellschraube seien ­digitale „Toolkits“ für Vertriebspartner und Kunden. Sie sollen ­individualisierte Lösungen ermöglichen: Angefangen bei maß­geschneiderten Investmentstrategien inklusive Kundenreporting bis hin zu einem Asset-Liability-Management.

Blick auf das große Ganze
Sehr hilfreich kann bei einer derart komplexen Materie die Einschätzung eines Beraters wie Matthias Hübner sein, der das große ­Ganze im Blick hat. Hübner ist Partner bei der Managementberatung Oliver Wyman in Frankfurt. Im Interview mit portfolio institutionell vertritt er die Einschätzung, dass die Digitalisierung im Asset ­Management noch relativ weit am Anfang steht. „Asset Manager ­wissen, was im Zuge der Digitalisierung auf sie zukommt. Aber im Vergleich zu Banken und klassischen Industrien, die unmittel­barer von der digitalen Bedrohung erfasst wurden, steht das Asset Management­ noch am Anfang der Bewegung.“ Hübner hat den Eindruck, dass der Begriff der Digitalisierung von vielen Anbietern noch sehr eng gefasst wird. „Sie betrachten die Digitalisierung als etwas, dass ausschließlich den Retail-Vertrieb betrifft. Das wird neudeutsch unter dem Schlagwort ‚Robo Advisor‘ subsummiert. Aus unserer Sicht ist dieses Verständnis zu eng.“

Vor diesem Hintergrund spannt der Berater den Bogen weiter. Er betont, dass die Digitalisierung nicht nur im Privatkundengeschäft ­eine Rolle spielt, sondern auch die institutionelle Seite und das Geschäft über den Vertrieb hinaus betrifft. „Wir bei Oliver Wyman gehen davon aus, dass sich das Thema entlang der gesamten Wertschöpfungskette abspielen wird. Dabei ist die Interaktion mit dem Kunden sicherlich ein Element. Aber wir vertreten die Auffassung, dass auch das Portfoliomanagement in den nächsten Jahren deutlich betroffen sein wird.“
Hübner verweist auf den Einfluss von Big Data, also die Analyse großer Datenmengen durch extrem leistungsfähige Rechner, und künstlicher Intelligenz als Angriffspunkte. Und auch die Middle- und Back-Office-Funktionen würden durch die Digitalisierung ­verändert. Hier geht es vor allem darum, effizienter zu werden; die ­Argumentation ähnelt der von AGI. Hinzu kommt: Manuelle Prozesse­ werden durch digitale Prozesse ersetzt, um die Geschäftsmodelle ­insgesamt schlanker aufzustellen. Innerhalb des Asset Management werde die Digitalisierung aber bis dato noch sehr stark über einzelne Initiativen diskutiert, lautet Hübners Zwischenfazit.

Eine wenig industrialisierte Branche
Aus dem Tagesgeschäft heraus weiß Unternehmensberater ­Hübner auch, dass das Asset Management anders als viele andere Zweige der Wirtschaft eine wenig industrialisierte Branche ist: „Die meisten Unternehmen erbringen die komplette Wertschöpfung noch selbst. Es gibt nur wenige Outsourcing-Modelle, wie das in anderen Industrien längst der Fall ist. Wenn man Asset Management als Branche­ betrachtet, dann liegt sie im Vergleich zur Realwirtschaft bei der Digitalisierung zurück.“
Die Realwirtschaft habe auch einen stärkeren Bezug zu Themen wie dem sogenannten Internet der Dinge. Der Begriff beschreibt, dass der Computer als Gerät zunehmend verschwindet und durch „intelligente Gegenstände“ ersetzt wird. Die Nutzung dieser Technik ist nach Einschätzung Hübners für Asset ­Manager jedoch noch weit entfernt. In der Automobilindustrie oder auch im Handel spiele sie dagegen längst eine wesentliche Rolle. Doch auch im Asset Management beschäftigt man sich nachdrücklich mit Fragen der ­Digitalisierung, um die Trends der Zukunft nicht zu verschlafen und kein Geschäftsmodell zu verfolgen, das womöglich über Nacht obsolet ist.

Innovationen ermöglichen und nutzen
Nach Einschätzung Hübners hat die Offenheit der Finanzbranche gegenüber aufstrebenden Fintechs, die Banken das Geschäft durch innovative Lösungen streitig machen, und Insurtechs, die dasselbe bei Versicherungen versuchen, deutlich zugenommen. Die Frage, die sich Asset Manager stellen müssen, wenn sie Ideen von Fintechs aufgreifen und generell innovativer sein wollen, lautet: Wie muss ich mich aufstellen, damit die Innovation im eigenen Unternehmen auch ankommt? „Das ist eine Glaubensfrage“, sagt Hübner und erläutert: „Wenn man versucht, neue Ideen mit möglicherweise seit vielen Jahren bestehenden Teams unter derselben Leitung und Verantwortung zu generieren, kann es sein, dass Innovationen gar nicht erst groß werden. Siedelt man ein solches Innovationsvorhaben allerdings zu weit außerhalb des Kerngeschäfts an, kann es schwierig werden, den Know-how-Transfer zurück in die Organisation sicherzustellen.“

Inzwischen kristallisiert sich immer mehr heraus, welchen Weg einzelne Marktteilnehmer diesbezüglich einschlagen. Ein aktuelles Beispiel liefert die Commerz Real. Die traditionsreiche Tochtergesellschaft der Commerzbank hat sich zum Ziel gesetzt, erster digitaler ­Asset Manager und integrierter Investmentdienstleister zu werden; und sie behält dieses Vorhaben auch nicht für sich. Ziel ist, heißt es in einer Pressemitteilung, die Optimierung des Geschäftsmodells, die Flexibilisierung und Automatisierung möglichst sämtlicher Geschäftsprozesse sowie eine effektivere, Gewinn bringende Nutzung von Daten. „Wir betrachten die Digitalisierung aus der Sicht unserer Kunden: Welche Dienstleistungen fragen sie heute nach, welche werden sie künftig nachfragen und über welche Kanäle würden sie sie nutzen? Daran orientieren wir unsere Geschäftsstrategie“, erläutert Andreas Muschter, Vorsitzender des Vorstands der Commerz Real.
Um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen, suche man gezielt die ­Zusammenarbeit mit jungen Technologieunternehmen der Immo­bilienbranche, den sogenannten Proptechs. Zur Forcierung und ­Bündelung ihrer Digitalisierungsaktivitäten hat die Commerz Real nun ein eigenes „Digital-Werk“ gegründet. Das am Standort Wies­baden angesiedelte Großraumbüro, wo die einzelnen Arbeitsräume ansonsten nur wenige Mitarbeiter beherbergen, kann man als eine Art Labor begreifen, dessen Konzeption an ein Start-up-Unternehmen erinnern soll. Die Mitarbeiter im Digital-Werk kommen aus den verschiedenen Unternehmensbereichen; sie sitzen eng beisammen, um sehr schnell und sehr intensiv miteinander kommunizieren zu können.
Das Digital-Werk steht dabei interessanterweise unter der Leitung eines Computerspiel-Experten: Die Commerz Real hat erst kürzlich mit Florian Stadlbauer einen Branchenfremden an Bord ­geholt und ihn mit dem Titel „Head of Digitalization“ dekoriert. Der promovierte Betriebswirt war zuvor Geschäftsführer des von ihm 2001 mitgegründeten Frankfurter „Deck13“, eines Entwicklungs­studios für Videospiele. Stadlbauer hatte aber noch weitere Hüte auf: Seit 2013 ist er Technologiebeauftragter des hessischen Wirtschafts­ministeriums. Von 2013 bis 2016 agierte er als Vorsitzender des Bundesverbands der deutschen Games-Branche.

Im Gespräch mit portfolio institutionell erläutert der leidenschaftliche Spieleentwickler, wie es dazu kam, dass er inzwischen auch im Asset Management hoch angesehen ist: „Ich habe 20 Jahre meines Lebens mit der Entwicklung von Videospielen verbracht. Davon habe ich nach meinem Studium zehn Jahre Vollzeit Spiele entwickelt. Wenn man etwas über eine so lange Zeit hinweg macht, kam für mich der Gedanke, in meinem Leben den nächsten Schritt zu gehen. Neben der Arbeit an Videospielen gab es auch immer wieder Kunden, die mich auf das Thema Digitalisierung angesprochen haben.“ Bei der Commerz Real soll er nun etwas völlig Neues aufbauen: Es geht um nicht weniger als die digitale Strategie seines Arbeitgebers.

In diesem Zusammenhang wird bei der Commerzbank-Tochter nun konsequent Raum für Kreativität geschaffen. „Es geht darum, ­Orte zu schaffen, wo interdisziplinäre Teams zusammenarbeiten, um auf hervorragende Ideen zu kommen.“ Der Austausch müsse unter bestimmten Voraussetzungen vorgenommen werden. Dabei geht es beispielsweise um Vertrauen. Es muss die Möglichkeit des offenen Aussprechens auf sachlicher Ebene gegeben sein, erklärt Stadlbauer. Dazu zählt auch der Freiraum, Fehler machen zu können. Und es geht auch darum, im Brainstorming Ideen auf den Tisch zu bringen, die auf den ersten Blick vielleicht skurril wirken und vielleicht auch unpassend für das Unternehmen sein können. Es geht also um eine kreative Arbeitswelt. „Es sieht hier aber noch nicht so futuristisch aus, wie Sie das vielleicht von Facebook und Google her kennen“, relativiert der Chef für Digitalisierung bei der Commerz Real.

Auch andere Firmen holen sich mentale Anleihen im Silicon ­Valley: Sie schaffen Räume mit Wohlfühlatmo­sphäre. Keinesfalls fehlen dürfen hier bunte Möbel. Es muss aber nicht gleich eine Rutsche installiert werden, mit der man – so wie Mitarbeiter bei Google – angeblich bis in die Kantine schlittern kann. Bei der Commerz Real will man von Kindereien wie einer Rutsche nichts wissen. Ein wesent­licher Teil der Arbeit Stadlbauers zielt indessen darauf, Projekte nicht nach dem klassischen Schema des „Wasserfall­ansatzes“ durchzuführen: Konzept, Projektplan, Bewilligung, Umsetzungsphase, Veröffent­lichung. „Ich komme eher aus einer Welt, die iterativ arbeitet“, sagt Stadlbauer und betont, wie wichtig ihm Agilität im Denken und Handeln sind. Denn dadurch werden Systeme geschaffen, die sich sehr schnell an Veränderungen im Markt anpassen­ können. Mag sein, dass der 39-Jährige Head of Digitalization ­damit ­den alten Hasen auf den Schlips tritt. Aber so sind die Zeiten.

Auf die Frage, worin er den Kern der Digitalisierung im Asset ­Management sieht, sagt Stadlbauer: „Die Technologie spielt heute ­eine strategische Rolle. Früher wurde Technologie eingesetzt, um Geschäftsprozesse, die nicht technologiegetrieben waren, zu unterstützen. Mittlerweile hat Technologie einen anderen Stellenwert.“ Das was mit Software und der Verbreitung des Internet möglich ist, führt dazu, dass ganz neue Geschäftsmodelle und neue Plattformen ent­stehen, auf denen das Geschäft tatsächlich stattfindet. „Und wenn wir nicht Teil dieser Entwicklung sind, sondern uns in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber anderen begeben, dann kann das Geschäfts­modell eines Unternehmens ganz allgemein problematisch sein. ­Unsere Aufgabe hier im Digital-Werk besteht darin, uns vorzubereiten und im Zweifelsfall sehr schnell auf Marktveränderungen ­reagieren zu können. Sie sind typischerweise technologiegetrieben. Idealerweise führen wir diese Veränderungen selbst herbei“, erklärt Stadlbauer.
Davon einmal abgesehen: Wenn Unternehmen nun dazu übergehen, Ideenschmieden ins Leben­ zu rufen, um die digitale Revolution bloß nicht zu verschlafen, dann baut das bei den zuständigen Mitarbeitern gehörigen Erfolgsdruck auf. Sie tragen die Last, ganze Konzerne fit für die Zukunft zu machen. Ob sich unter dieser ­Bürde mal eben pfiffige Ideen entwickeln lassen, erscheint fraglich. Da kann der Arbeitsplatz noch so bunt und spielerisch ausgestaltet sein.

Kunden binden
Asset Managern, denen es gelingt, digitale Innovationen zeitig einzuführen, erhöhen die Kundenbindung, können neue Wachstumsfelder erschließen, Kosten senken und Risiken minimieren. Davon geht das Beratungshaus Deloitte aus. Der Dialog mit dem Kunden findet demnach zusehends in der digital-virtuellen Welt statt. Deshalb sollten Asset Manager ihre Dienstleistungen ohne Brüche digital, ­mobil und persönlich anbieten. Außerdem sollten sie ihre Leistungen und Produkte nicht einfach neu verpacken, sondern Mehrwert für ­ihre Kunden generieren und stärker auf ihre Bedürfnisse eingehen, empfiehlt Deloitte.
Brisanz erfährt die Digitalisierung im Asset ­Management durch das regulatorische Umfeld. Eine strengere ­Regulierung der Provisionszahlungen wird zu einer Zunahme des ­Direktgeschäfts führen beziehungsweise zu einer stärkeren Nutzung von „execution only“ Plattformen. Beide Trends führen laut Deloitte dazu, dass eine gezielte Kundenansprache und das Anbieten spezifischer Lösungen immer wichtiger werden. Neue Marktteilnehmer aus dem Fintech-Segment nutzen diesen Trend bereits und drängen verstärkt in das klassische Asset-Management-Geschäft. Angesichts dieser Entwicklung wartet die Talanx-Gruppe mit einer ambitionierten Strategie auf.

Anfang Oktober wies der börsennotierte Mehrmarkenanbieter in der Versicherungs- und Finanzdienstleistungsbranche darauf hin, dass er seine eingeschlagene „Innovations- und Digitalisierungsstrategie“ konsequent verfolgt. Dazu arbeiten die Hannoveraner nun mit der „führenden Innovationsplattform Plug and Play im Silicon Valley und dem führenden Start-up-Akzelerator Startupbootcamp Insurtech in London“ zusammen. Hier geht es darum, weltweit Start-up-Unternehmen zu identifizieren, die zur Talanx passen könnten. Mit der Partnerschaft will der Konzern ganz konkret innovative Technologien und digitale Geschäftsideen entlang der gesamten Wertschöpfungskette in der Versicherungsindustrie“ identifizieren und „das Versicherungsgeschäft noch konsequenter auf die Bedürfnisse der Kunden ausrichten.“ Denkbare Mehrwerte für Kunden ergeben sich etwa aus neuen Produkten, hofft die Talanx. Um die Digitalisierung auch intern voranzutreiben, baut die Talanx-Gruppe zudem ein eigenes Digital Lab auf. Es soll „als Partner der Geschäftsbereiche die Digitalisierung an der Kundenschnittstelle und im internen Betrieb“ vorantreiben. Und es soll neue digitale Geschäftsmodelle entwickeln. 

Peter Klingspor, Leiter Group Corporate Development, zeigt sich im Interview (Von Schnittstellen und Zielen: Digitalisierung bei der Talanx) sicher, „dass wir in allen Geschäftsbereichen die Weichen in Sachen Digitalisierung gestellt haben. Wir sind auf dem Weg, und erste Erfolge zeigen sich sukzessive, so zum Beispiel im Geschäftsbereich Privat- und Firmenversicherung Deutschland, wo wir nach nur einem Jahr intensiver ­Arbeit im Online-­Geschäft mit Autoversicherungen unsere ganz neu aufgebaute sogenannte Dunkelverarbeitungsstrecke gestartet haben.“ Das bedeutet, dass die gesamte Abwicklung vom Vertragsabschluss bis zum Ausdruck der Police automatisch abläuft – jedenfalls überwiegend.

Das Ausland sei mit der Digitalisierung allerdings deutlich weiter fortgeschritten, wie die Talanx durch den regelmäßigen Austausch mit ihren ausländischen Töchtern weiß. „Im Bereich Wohngebäudeversicherung gibt es in Brasilien beispielsweise eine App, über die Kunden Fotos an ihren Versicherer schicken können, worauf die ­Bearbeitung des Schadenfalls beginnt – alles digital, schnell und ­bequem für Kunde und Schadenregulierer“, sagt Peter Klingspor. Zudem sei die Geldentwertung dort teilweise sehr hoch. „Zeit ist Geld und Online-Prozesse sind schneller als der Postversand von Policen. Zudem müssen die Versicherer dort jedes Jahr aufs Neue um ihre Kunden kämpfen, weil die Kfz-Policen nur für ein Jahr abgeschlossen werden. Daher sind Innovation und Wettbewerbsfähigkeit das A und O dort. Deshalb profitieren wir von unserer internationalen Aufstellung: Wir versuchen, mit einem Best Practice Lab die besten – analogen und digitalen – Ideen aus allen Ländern auszutauschen.“

Ähnlich sieht man das bei der Boston Consulting Group (BCG). „Im digitalen Versicherungsvertrieb kommt es darauf an, dort präsent zu sein, wo sich der Kunde online aufhält. Online- und Offline­beratung müssen nahtlos ineinandergreifen, um dem Kunden beim Beantragen einer Versicherung ein Einkaufserlebnis zu verschaffen“, erläutert Anne-Katrin Heger, Associate Director bei BCG und Mitglied der Praxisgruppe Versicherungen.
Die Juristin und Versicherungs­expertin arbeitet seit knapp sechs Monaten für BCG, zuvor war sie bei der Allianz tätig. Dort leitete sie zuletzt die vertriebliche Digitalisierung des Versicherungskonzerns. Bei der Praxisgruppe Versicherungen von BCG beschäftigt sich Heger derzeit unter anderem mit der Optimierung von Geschäftsprozessen von Versicherungsgesellschaften. Im Zentrum ihrer Arbeit steht unter anderem die klassische ­Nutzung von digitalen Instrumenten zur Optimierung von Geschäftsprozessen. Darüber hinaus erörtert sie den Einsatz von Advanced ­Robotics zur Optimierung regulärer Prozesse, aber insbesondere auch zur schnellen, schlagkräftigen Abarbeitung von Rückständen in der Verwaltung, wie sie auf Nachfrage mitteilt. Fragestellungen, die das Asset Management betreffen, ergeben sich dabei nicht im ­unmittelbaren Sinne, so Heger, sondern vielmehr „bei digitalen ­Antragstrecken fondsbasierter Vorsorgeinstrumente, da der erheb­liche Beratungsbedarf bisher noch schwer digital abbildbar ist“.

Die Direktbank Ebase wiederum arbeitet in Zukunft eng mit dem Fintech-Unternehmen Fincite zusammen. Fincite entwickelt Applikationen für Banken, Versicherungen und Asset Manager. Beide Akteure­ haben eine strategische Partnerschaft geschlossen und wollen ­neben Banken und Vermögensverwaltern nun auch Versicherungs­unternehmen bei der Umsetzung digitaler Innovationen unter­stützen. „Die Digitalisierung­ schreitet voran, die Märkte verändern sich in rasantem Tempo“, sagt Rudolf Geyer. Nach Einschätzung des Geschäftsführers von Ebase macht sie auch vor der Versicherungsbranche nicht halt. „Technologisch sind in den letzten zwei Jahren ­völlig neue Lösungen möglich geworden“, ergänzt Ralf Heim, Co-CEO von Fincite, und wird konkreter: „Kunden können heute jederzeit ihre Finanzen im Blick haben. Sie können ihre Konten, Depots und Policen mit intelligenten Applikationen verknüpfen.“ Ein solches Angebot müsse nicht immer zuerst von einem Start-up kommen, ­relativiert Ralf Heim.

Von Vernetzung und Virtual Reality Devices
Eine ganz eigene Sicht auf die Fragen, die die Digitalisierung im Asset Management aufwirft, hat Christian Salow, Geschäftsführer des Fondsportals „Altii.de“. Er sieht beispielsweise bei der Vernetzung von Investoren mit Consultants, Asset Managern und der Finanz­aufsicht Nachholbedarf. Es gebe noch viele Medienbrüche. Und es ­bestehe Druck, dass sich das ändert. Eine Rolle bei der Digitalisierung spiele auch die Offenheit der heutigen Führungskräfte bei Versicherungen und Pensionseinrichtungen. Die aufstrebende Generation der „Digital Natives“, die virtuos mit dem Einsatz von Smart Devices und Cloud-Lösungen umgehen, werde langfristig deren ­Plätze einnehmen. Das werde die Veränderung weiter vorantreiben. Und was die Bedürfnisse der Kunden betrifft, sieht Salow eine neue Welt: Er ­verlangt, dass man Anlageprodukte „anfassen“ und „erleben“ können soll. Über sogenannte Virtual-Reality- oder Augmented-­Reality-Brillen, die beispielsweise in der Medizin und auch in der ­Spieleindustrie ­eingesetzt werden, müssten Geschichten zu Finanzprodukten erzählt werden, schwärmt er von der Zukunft.
Es gehe auch um die Emotionalisierung des Verkaufsprozesses. Es brauche Emotionalität am Anfang,­ um die Aufmerksamkeit des Kunden zu gewinnen und Emotionalität­ am Ende, um positive Entscheidungen im Vertrieb zu bewirken. Dass die Digitalisierung aber enorme Risiken birgt und von daher auch als digitale Bedrohung betrachtet wird, zeigt folgende Annahme:­ Während ein im Vertriebsprozess enttäuschter institutioneller Anleger dem Anbieter fortan die kalte Schulter zeigen dürfte, kann es im Retail-Geschäft zu fataleren Folgen bis hin zu ­einem „Shitstorm“­ der Kunden in den sogenannten sozialen Netzwerken kommen. Das wäre der GAU für das Image des Anbieters. Auch deshalb­ müsse man genau verstehen, was die Kunden wollen, sagt Christian Salow.

Relevanz erkannt
Die Asset-Management-Branche erkennt die Relevanz der Digitalisierung für ihre Prozesse und den Vertrieb, geht diese Themen aber nur unsystematisch an. So lautete der Tenor einer Studie des IT-Dienstleisters Endava und des Beratungshauses Kommalpha, ­publiziert im Oktober 2015. 56 Prozent der Asset Manager nutzen demnach Big Data bereits regelmäßig oder unregelmäßig. 30 Prozent geben in der Studie an, Big Data nicht nutzen zu wollen und 14 Prozent sind noch unentschlossen. Big Data wird von den Asset Managern dabei hauptsächlich im Marktresearch und zur Durchführung von Analysen ­genutzt. Es folgen die Anwendungsfelder „Reporting“, „Wissen aneignen“­ und „Benchmarks“.
Nur 22 Prozent nutzen Big Data auch für Anlageentscheidungen. Die Studie identifiziert dabei drei Kategorien von Asset Managern bezüglich ihrer Erwartungen an Big Data: Einige Asset Manager mit hohen Erwartungen erhoffen sich ­eine Reihe von Effizienzsteigerungen, verhalten optimistische Asset Manager hegen Befürchtungen wegen eines höheren Wett­bewerbsdrucks und einer schweren Implementierung und zuletzt die Gruppe derjenigen Asset Managern, die von keinem Einfluss auf ihre Tätigkeit oder ihr ­Geschäftsmodell ausgeht.

Diese Klassifizierung führt zurück zur Commerz Real. Auch sie will ihr Geschäftsmodell optimieren. Dabei strebt sie die Flexibilisierung und Automatisierung möglichst sämtlicher Geschäftsprozesse sowie eine effektivere, Gewinn bringende Nutzung von Daten an. Der Mensch soll dabei aber nicht obsolet werden, sagt der frischgebackene Head of Digitalization, Florian Stadlbauer: „Unser Ziel besteht darin, mit unserer Mannschaft zu wachsen. Und das schaffen wir nur, wenn wir standardisierte Prozesse automatisieren. Es geht darum, dass sich unsere Experten nicht um Themen kümmern müssen, die auf einem sehr niedrigen kognitiven Niveau abgewickelt werden können. Unsere Fachleute sollen sich um Auf­gaben kümmern, die außerhalb der Standardisierung liegen, um dann auch neues Geschäft anzugehen. Daher ist es auch gar nicht unsere­ Aufgabe, Mitarbeiter obsolet zu machen, sondern sie dort einzusetzen, wo sie am sinnvollsten agieren können: bei sehr schwer zu strukturierenden und außerhalb des Standards liegenden Aufgaben. Dann können wir unser Geschäft noch schneller und komplexere Themen angehen.“
Bei ihrer neuen Strategie will die Commerz Real sich auch Big ­Data zuwenden und aus einer Fülle vorliegender Daten monetären Nutzen ziehen. „Bei uns liegen Daten in elektronischer Form strukturiert und unstrukturiert vor. Wir machen uns Gedanken, was man mit den Daten machen kann. Die Vermutung von allen, mit ­denen wir bisher darüber gesprochen haben, lautet, dass hier Infor­mationen enthalten sind, die verwertbar sind.“

Die Commerz Real hat beispielsweise über die vergangenen Jahre hinweg Rechnungen angehäuft, die für die Wartung ihrer Immo­bilien fakturiert worden. „Wir können ­daran detailliert feststellen, wie viel Geld wir für Energie- als auch die Wartungs­kosten bezahlt ­haben. Und wir wissen ganz genau, wann Geräte repariert oder ­ersetzt werden mussten und was das gekostet hat“, sagt Stadlbauer. Im Zuge der Digitalisierungsstrategie will die Commerzbank-Tochter Zusatz­dienste anbieten: „Wenn Sie eine ­Immobilie kaufen, die beispiels­weise eine bestimmte Klimaanlage enthält, können wir genau aufschlüsseln, welche Kosten hier in den nächsten Jahren für die Wartung auflaufen werden.“ Stadlbauer geht davon aus, dass Hauskäufer bereit sind, einen gewissen Preis für solche Informationen zu bezahlen. „Und ein Haus besteht ja nicht nur aus Klima­anlagen, sondern enthält auch Aufzüge, eine Lichtanlage, Verkabelung“, sagt er.

Big Data wird die künftige Entwicklung der Immobilienbranche revolutionieren. Zu diesem Fazit kam bereits im Oktober 2015 eine Studie. Darin haben die Analysten von Catella den Status quo und die Zukunftsfähigkeit der europäischen Immobilienbranche vor dem Hintergrund der Digitalisierung untersucht und dafür 468 euro­päische Immobilienunternehmen befragt. Das zentrale Ergebnis fasst Dr. Thomas Beyerle, Chefanalyst von Catella, so zusammen: „Big ­Data wird als relevant und revolutionär angesehen für die künftige Entwicklung der Immobilienbranche. Zwar produzieren alle befragten Unternehmen Daten zuhauf, doch nur ein geringer Teil setzt diese­ umfassend als Prozesselement in die Leistungserstellung, in die ­Prognose und strategische Planung ein“. Florian Stadlbauer bei der Commerz Real ist da schon mindestens einen Schritt weiter. Denn er befasst sich längst auch mit Technologien, deren Nutzung aber ­bislang noch viele Fragen aufwirft: Stichworte sind künstliche Intelligenz, neuronale Netze, Robo Advising und selbstlernende Algorithmen.

Selbstfahrender Investment-Roboter
Nicht weniger als zwei Drittel der deutschen Investment Professionals­ messen der Nutzung von Big Data sowie der Einbeziehung von künstlicher Intelligenz in Zukunft eine wichtige Rolle bei. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Vereinigung für Finanz­analyse und ­Asset Management (DVFA) im Oktober 2015. Ein Jahr später, im November 2016, veranstaltet die DVFA nun erstmals eine „Neurofinance Konferenz“, um daraus abgeleiteten Fragen nachzugehen. Denkbar ist, dass Algorithmen-basierte Anlageprodukte und ­digitales ­Asset Management die logische Konsequenz sind, um irratio­nales Anlageverhalten auszuschalten. Aber: Kann die Maschine den Menschen ersetzen, wenn es um Geld geht?
Allmählich entwickeln sich auch Investmentstrategien, die auf Fragen wie dieser aufbauen. Ein Beispiel dafür ist Dr. Hendrik Leber mit der von ihm gegründeten Acatis Investment GmbH. Seit Mitte Oktober 2016 setzt man dort bei der Aktienselektion für den seit Jahren etablierten Acatis Global Value Total Return Fonds auf die Hilfe künstlicher Intelligenz. Das neue ­Anlagekonzept basiert auf einer Art Mustererkennung und wurde bislang noch nicht an die große Glocke gehängt; nur so viel verrät Leber schon jetzt: „Wenn ich eine Bilanz betrachte, mache ich in meinem Kopf eine Art Mustererkennung: Dieses oder jenes Bilanzmuster ­habe ich schon einmal in meinem Leben gesehen. Und das ist an der ­Börse gut aufgegangen.“ Eine Maschine könne diese Analyse viel besser. „Sie kann alle Bilanzen dieser Welt in der kompletten Historie auf diese­ Weise analysieren. Sie hat einen viel breiteren Horizont als ich ihn habe. Und sie kann mit mehr Sicherheit zu einem Urteil kommen.“­
Leber arbeitet bei seiner individuellen Digitalisierungsstrategie mit Professor Schmidhuber und dessen Team zusammen. Der namhafte Forscher ist eine Koryphäe für künstliche neuronale Netze. Und er ­beschäftigt sich beispielsweise auch mit der Mustererkennung in ­Finanzdaten. Er und sein Team haben in der Vergangenheit mit ihren Entwicklungen eine Vielzahl internationaler Preise abgeräumt. Seine Forschungsgruppe für künstliche Intelligenz leistete seit 1991 Pionierarbeit zu sogenannten tiefen künstlichen neuronalen Netzen.

Dr. Hendrik Leber hat neben der Mustererkennung von Bilanzen noch ­einen weiteren Pfeil im Köcher, für den er auch schon einen Lead ­Investor gefunden hat: „Wir bauen gerade einen Roboter, der ­Aktien selektieren kann.“ Das Besondere daran: Es ist ein äußerst ­modernes System, das selbstständig lernt, Aktien zu selektieren und autonom Portfolien zusammenzustellen. „Wenn es fertig ist, wird es ein integrierter Prozess sein“, freut sich Leber. Der von ihm ­eingeschlagene Weg basiert auf der Fundamentalanalyse, auch wenn das Lesen von Bilanzen an Computer ausgelagert wird. Von diesem Ansatz unterscheidet sich die Textanalyse, auf deren Basis blitzschnell Anlageentscheidungen gefällt werden. Hier tummelt sich beispielsweise die Frankfurter Catana Capital. Lebers ­Ansatz ist aber auch ­gegenüber der computerbasierten Kursanalyse abzugrenzen.

Letztlich wird schon heute ein Großteil der Umsätze an den ­Finanzmärkten durch ­algorithmische Handelsprogramme generiert. Daher stellt sich die Frage, ob der Homo sapiens noch eine Chance hat, sich hier zu behaupten? Derzeit sieht es nicht danach aus. Als ­Investor sollte man die Veränderungen im Asset Management aufmerksam verfolgen und sich auf die ­facettenreiche Digitalisierung einlassen. Dabei sollte man das eigene Handeln aber so einrichten, dass man von ihrer disruptiven Wirkung nicht zerrieben wird.

Von Tobias Bürger

portfolio institutionell, Ausgabe 11/2016

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