Vermieten statt verkaufen

Handelssaal der Frankfurter Börse: Vor ein paar Jahren sorgte der Videospielehändler Gamestop für Aufsehen, als die Aktie zum Ziel von Short-Sellern wurde, die in der Regel mit geliehenen Aktien auf sinkende Kurse wetten. Bild: Deutsche Börse.
Bei ETFs und Publikumsfonds ist Wertpapierleihe weit verbreitet, doch auch in Spezialfonds und Direktanlagen können Asset Owner damit zusätzliche Erträge auf ihren Portfoliobestand erzielen. Die Leihe bringt meist nur wenige Basispunkte, der Investor hat aber auch kaum Aufwand.
Vor ein paar Jahren sorgte der Videospielehändler Gamestop für Aufsehen, als die Aktie zum Ziel von Short-Sellern wurde, die in der Regel mit geliehenen Aktien auf sinkende Kurse wetten. Soweit nichts Ungewöhnliches. Schlagzeilen machte Gamestop aber vor allem deshalb, weil sich Kleinanleger über die Internet-Plattform Reddit zum Gegenangriff zusammenschlossen. Mit ihrer geballten Kaufkraft trieben sie den Gamestop-Kurs in absurde Höhen und die Hedgefonds zum fluchtartigen und oft verlustreichen Rückzug aus ihren Short-Positionen.
So spektakulär wie bei Gamestop geht es selten zu, wenn Wertpapiere verliehen werden. Sehr viel häufiger dient die Wertpapierleihe Optimierungs- und Arbitrageprozessen. Die Praxis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten an den Finanzmärkten etabliert. Ihre zahlreichen Befürworter argumentieren, dass Wertpapierleihe zur Markteffizienz beiträgt, indem sie zusätzliche Liquidität bereitstellt, die Preisfindung und Funktionalität der Märkte verbessert und potenziell Handelsspannen sowie die Kapitalkosten für Anleger reduziert. Für Asset Owner bietet sie eine gute Möglichkeit, ohne nennenswerten Zusatzaufwand und Risiko einige Basispunkte zusätzlich auf ihre Anlagen zu erzielen.
Laut S&P boomt das weltweite Wertpapierleihe-Geschäft: Die weltweiten Erträge mit Security Lending erreichten von Januar bis September 2025 mehr als elf Milliarden Dollar – das ist ein kräftiger Anstieg gegenüber der Vergleichsperiode des Vorjahrs. Von den Erträgen entfielen demnach 8,6 Milliarden Dollar auf Aktien, gefragt waren vor allem US-amerikanische und asiatische Dividendenwerte. Rund 1,6 Milliarden Dollar wurden mit der Leihe von Staatsanleihen erzielt. Insgesamt waren nach S&P-Angaben durchschnittlich ungefähr 5,5 Prozent der weltweiten Portfoliobestände verliehen.
Sicherheiten müssen stark diversifiziert sein
Das Prinzip der Wertpapierleihe am Beispiel eines Ucits-Fonds: Der Inhaber der Wertpapiere und der Entleiher verständigen sich auf die Eckpunkte wie Zeitraum, Leihgebühr und gegebenenfalls auf Sicherheiten. Der Entleiher hinterlegt die vereinbarten Sicherheiten, meist in Form von Cash, hochwertigen Staats- und Unternehmensanleihen oder Aktien. Für die Sicherheiten gelten strenge Anforderungen: Sie müssen stark diversifiziert sein, vor allem muss der Wert der Sicherheiten immer deutlich höher sein als der Wert der entliehenen Wertpapiere. So ist bei Anleihen eine Mindestdeckung von 103 Prozent, bei Aktien von 105 Prozent üblich. Fondsanbieter, die Wertpapierleihe in ETFs oder Publikumsfonds betreiben, gehen teils deutlich darüber hinaus.
Nach dem Eingang der Sicherheiten, die getrennt vom Fondsvermögen verwahrt werden, überträgt der Inhaber dem Entleiher die Wertpapiere. Während der Leihdauer wird kontinuierlich der Marktwert der Sicherheiten und der entliehenen Wertpapiere abgeglichen und die Sicherheiten bei Bedarf angepasst. Auch die Bonität des Entleihers wird beobachtet. Die Leihe endet schließlich mit der Rückübertragung von Wertpapieren und Sicherheiten. Kurszuwächse der entliehenen Aktien oder Anleihen wie auch Dividenden- und Zinszahlungen werden während der Verleihdauer dem Nettoinventarwert zugeschlagen.
Standard bei ETFs
Der Großteil der Ucits-Publikumsfonds und -ETFs nutzt Wertpapierleihe. Vor allem passive ETFs sind mit ihren stabilen Portfolios geeignet, aber auch aktive Fonds betreiben diese Praxis. Grundsätzlich dürfen alle in Luxemburg, Irland oder auch der Schweiz aufgelegten Ucits-Fonds und -ETFs Wertpapiere verleihen, sofern sie das im Prospekt so festhalten. Nur wenige Anbieter wie etwa Wisdom-Tree schließen Wertpapierleihe aus ihren ETFs grundsätzlich aus. Gemäß europäischer Fondsrichtlinie dürfen sogar bis zu 100 Prozent des Bestands verliehen werden, wobei die Obergrenze pro Entleiher zehn Prozent beträgt. Allerdings entscheiden die Fondsgesellschaften selbst, welche Fonds Wertpapierleihe betreiben und setzen dabei meist deutlich engere Obergrenzen, zudem ist auch die Nachfrage meist deutlich geringer.
Die großen deutschen KVGen wie Deka, DWS und Union Investment haben eigene Leiheprogramme, die sie selbst für ihre Ucits-Fonds umsetzen. Die Fondshäuser verweisen auf die Vorteile für Kunden. Die Zusatzerträge tragen vor allem bei ETFs dazu bei, dass die Kosten niedrig gehalten und der ETF den Index besser abbilden kann. Für den US-Fondsmarkt zeigen Untersuchungen, dass Wertpapierleihe im Durchschnitt einen Mehrertrag von einem bis vier Basispunkten für ETFs bringt.
Das deckt sich mit den verfügbaren Zahlen der ETF-Anbieter bei Ucits-Produkten. So erzielte etwa der X-Trackers MSCI World Ucits ETF im vergangenen Jahr mit einem durchschnittlichen Verleihsatz von 2,56 Prozent eine Zusatzrendite von rund 1,2 Basispunkten. Bei Ucits-Fonds garantieren mehrere Fondsanbieter wie etwa Blackrock, den Fehlbetrag für den Fall auszugleichen, dass es zum Zahlungsausfall eines Entleihers kommt und die Sicherheit die Kosten zum Rückkauf eines entliehenen Wertpapiers letztlich nicht decken.
Michael Mohr, Global Head of X-Trackers Products bei der DWS, sagt: „Der Ertrag durch Wertpapierleihe hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Anlageklasse oder der aktuellen Nachfrage nach den jeweiligen Wertpapieren.“ Aber auch der Zeitpunkt ist eine Komponente – so kann es in einigen Märkten zum Beispiel um Dividendenstichtage zu erhöhter Nachfrage kommen.
Kritisch sehen manche Investoren die Leihe bei nachhaltigen Anlagen wegen der möglichen Short-Positionen der Entleiher. Einige ETF-Anbieter wie UBS, JP Morgan oder SPDR schließen Wertpapierleihe daher in ihren Nachhaltigkeits-ETF aus. Andere erlauben Wertpapierleihe zwar im Prospekt, setzen sie aber in der Praxis oft nicht oder kaum ein.
Grundsätzlich unterscheidet sich Wertpapierleihe bei Fonds nicht von ETFs: Während ETF-Anbieter aber meist im Jahresbericht oder wie X-Trackers transparent auf der Website umfassend über Wertpapierleihe informieren, sind dieselben Informationen bei aktiven Publikumsfonds oft nur in den Fondsprospekten zu finden. Nur wenige Fondshäuser wie etwa die DWS zeigen die wichtigsten Eckpunkte für jeden Fonds ähnlich wie bei ETFs auf der Website.
Asset Owner haben die Wahl
Während bei Ucits-Fonds der Fondsanbieter über die Leihe entscheidet, treffen Asset Owner bei Spezialfonds und im Direktbestand selbst eine Entscheidung zur Wertpapierleihe. Die meisten größeren Versicherungen und Pensionsfonds haben nach Einschätzung von Marktteilnehmern solche Programme aufgesetzt, die meist lautlos im Hintergrund laufen. Entscheidet sich ein Asset Owner für die Wertpapierleihe, dann holt er zunächst von der Depotbank eine Schätzung für den potenziellen Leiheertrag ein. „Wenn sich der Asset Owner für die Wertpapierleihe entscheidet, schließt die KVG als gesetzlicher Vertreter einen Rahmenvertrag mit dem Securities Services Provider“, sagt Sascha Gaurilavas, Experte für Securities Lending bei BNP Paribas. Der Investor hat im Normalfall keinen weiteren Aufwand, wenn sein Leiheprogramm erst einmal aufgesetzt ist.
Gerade im Buy-and-Hold-orientierten Direktbestand geht es dabei oft um langlaufende Leihen mit Fristen von einem und mehreren Jahren. „Das ist besonders attraktiv von den Gebühren her, da es den Entleihern mehr Planungssicherheit gibt“, erklärt Gaurilavas. Der Investor weiß hier genau, dass ein Bond erst in vielen Jahren zur Deckung der Verbindlichkeiten benötigt wird.
Exklusiv oder Agentur
Grundsätzlich gibt es für Institutionelle zwei Durchführungsarten der Wertpapierleihe: Beim Agency Lending tritt der Securities Service Provider nur als Vermittler auf. Das eigentliche Leihgeschäft kommt hier zwischen dem Fonds – sprich KVG – und den verschiedenen Entleihern zustande. Beim Principal Lending gibt es lediglich einen einzigen Entleiher.
Die Entleiher der Wertpapiere haben zahlreiche Motive. Gerade Banken leihen sich gerne Government Bonds – auch aus dem Direktbestand der Asset Owner –, da diese eine positive Wirkung auf ihre Solvency Ratio haben. Lange Fristigkeiten bedeuten oft höhere Leiherträge: „Wenn die Bank weiß, ich bekomme für drei Jahre eine Bundesanleihe oder eine US-Staatsanleihe entliehen, dann hat diese dauerhafte Verbesserung der Solvency Ratio einen hohen Wert“, sagt Gaurilavas. Auch das „Collateral Upgrade“ spielt eine wichtige Rolle: Hat eine Bank etwa eine Milliarde an Aktien und will mit diesem Bestand eine Derivateposition absichern, wird die zentrale Clearingstelle die risikobehafteten Aktien nicht zur Hinterlegung der Derivateposition akzeptieren, dafür aber qualitativ hochwertige Anleihen. Auch dann kommt WP-Leihe ins Spiel: „Die Bank sucht jemand, der die Wertpapiere hat, die sie braucht, und tauscht einfach“, so der BNP-Paribas-Experte.
Ein weiterer Aspekt ist das Short-Covering. Bank A verkauft Wertpapiere an Bank B, Bank A braucht zuerst aber von Bank C noch die physischen Stücke. „Auch da ist die Wertpapierleihe eine große Hilfe, um Liquidität und zeitgerechtes Settlement zu ermöglichen“, so Gaurilavas. Bank A würde die Position sich leihen, an Bank B liefern, und Bank C liefert an Bank A, damit schließt sich das Geschäft.
Die oft mit Wertpapierleihe in Verbindung gebrachten Hedgefonds sieht Gaurilavas in Deutschland selten hinter den Leihgeschäften: „Das ist eher ein Thema in den USA.“ Viel häufiger sei in Europa der Fall: „Wir haben Aktien, brauchen aber Bonds und wollen die Aktien nicht verkaufen.“ Zudem sei Shortselling zwar meist negativ belegt, sei aber auch wichtiger Teil einer fairen Preisfindung. „Es muss am Markt auch jemand geben, der die andere Sichtweise eingeht.“ Erst so komme es im Markt überhaupt zu einer fairen Preisfindung. Apropos: Für Interessierte finden sich bei den großen Datenanbietern wie IHS Markit auch Informationen dazu, welche Einzeltitel bei der Entleihe gerade besonders gefragt sind.
Weit verbreitet bei großen Investoren
Während die Leihtätigkeit global floriert, zieht sie in Deutschland eher nach und nach an. Das beobachtet auch Klaus Hinneschiedt, Leiter Custody & Clearing Services bei der LBBW. Er sagt: „Nachdem Wertpapierleihe in den letzten fünf bis zehn Jahren eine eher untergeordnete Rolle im Spezialfonds und bei den Direktanlagen gespielt hat, nimmt das Interesse am Markt seit geraumer Zeit zu.“ Aufgrund der guten Liquiditätssituation sowie steigenden Anforderungen an das zu stellende Collateral sei die Nachfrage der Banken speziell nach erstklassigen liquiden Aktiva wie Bundesanleihen oder anderen internationalen Staatsanleihen aber eher begrenzt und der gezahlte Leihezins am unteren Ende der Prämien-Skala. Das war im Niedrigzinsumfeld anders, als die drei bis fünf Basispunkte in der Wertpapierleihe deutlich interessanter waren.
Zusatzerträge für institutionelle Investoren
Wenn Investoren einmal an der Wertpapierleihe teilnehmen, würden sie in aller Regel auch dabei bleiben, sagt Gaurilavas. Die Leihe liefere dem institutionellen Investor mit einer KVG sehr gute Zusatzerträge ohne Aufwand: „Der Investor muss sich einfach am Anfang einmal Zeit nehmen und mit uns das Leiheprogramm nach seinen Anforderungen parametrisieren.“ Sei der Investor einverstanden, setze die KVG das Programm um und der Investor habe eigentlich nur noch die Erträge. „Es gibt da keine One-Off-Kosten“, sagt der Securities-Lending-Experte, und das Schlimmste, was passieren könne: „Ein Leiheprogramm bringt keine Erträge, da das Portfolio aktuell im Markt nicht für Entleiher attraktiv ist.“ Möglich ist auch der Verzicht auf die Besicherung. Bei Spezialfonds bedarf dies eine Abbedingung der KAGB-Vorgaben und einer Änderung der Anlagebedingungen. Vor dem Lehman-Zusammenbruch war diese Art der Leihe weiter verbreitet als heute. Die Motivation für den Verleiher ist hier klar der höhere erzielbare Ertrag.
Angebot und Nachfrage
Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. „Bei einem Euro Stoxx 50 Portfolio wird die Nachfrage eher gering sein, weil einfach jeder am Markt Euro Stoxx 50 hält“, so Gaurilavas. Alles, was etwas ausgefallener als ein Standard-Blue-Chip sei, habe bessere Aussichten. Am konkreten Beispiel zweier ETFs: Für einen X-Tracker Mid/Small Cap ETF nennt das Factsheet acht Basispunkte p.a., für einen Euro Stoxx 50 ETF gerade einmal 0,3 Basispunkte.
Die Aufteilung der Erträge ist bei der Wertpapierleihe recht ähnlich bei Ucits-Fonds und Spezialfonds/Direktanlage: Die Esma-Richtlinien, an denen sich die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) orientiert, fordern, dass alle Erträge – netto nach ausgewiesenen Kosten – an den Fonds gehen müssen. Bei ETFs und Publikumsfonds fließen in der Regel rund 70 Prozent der Erträge vor Kosten dem Fonds zu. 70 Prozent ist auch die Hausnummer, die bei Spezialfonds an den Investor gehen sollte. Bei größerer Buying Power dürften Asset Owner eher in Richtung eines 80-20-Splits kommen. Ein kleiner Anteil von unter fünf Prozent verbleibt oft bei der KVG für den Zusatzservice.
ESG-Kriterien berücksichtigen
ESG-Kriterien berücksichtigen viele Anleger auch bei der Wertpapierleihe. So kann der Investor auswählen, an wen er auch im Rahmen des Agency-Programms verleiht. Die Liste umfasst etwa bei BNP Paribas rund 150 Entleiher, davon rund 20 bis 30 europäische Namen, vor allem die großen Banken. Auswählen kann der Verleiher auch die akzeptierten Sicherheiten. Am Beispiel: Wenn der Verleiher aus ESG-Aspekten keine Rheinmetall-Aktien im Portfolio haben darf, kann er auch diese Titel in seinen Anforderungen für das Collateral ausschließen. LBBW-Experte Hinneschiedt sagt: „Vorgaben werden vorab geregelt, wie etwa keine Leihegeschäfte für Aktien über den Dividendentermin.“ Bei der Leihe würde aber eine zu starke Einschränkung des Universums dem Optimierungszweck entgegenlaufen.
Direkte Kontrolle hat der Investor aber nur auf die direkten Entleiher der ersten Stufe. Wie der Entleiher die Wertpapiere verwendet und ob er sie weiter verleiht, darauf hat der Asset Owner keinen Einfluss. Durch die Besicherung sind die weiteren Verleihstufen für ihn aus Risikoaspekten zwar ohne Bedeutung – doch grundsätzlich gilt bei der Leihe: Hinterm Horizont geht’s weiter.
Autoren: Jochen HägeleSchlagworte: Aktien | Anleihen | ETFs | Print-Ausgabe
In Verbindung stehende Artikel:

Schreiben Sie einen Kommentar