Versicherungen
2. Oktober 2014

Die Weltassekuranz blickt auf Solvency II – aber aus unterschiedlichen Perspektiven

Das Jahr 2016 rückt näher, und die europäischen Versicherer bereiten­ sich auf den Starttermin von Solvency II vor. Doch das Inkrafttreten des Aufsichtsregimes wird weitgehende Konsequenzen für die weltweite Versicherungsbranche haben, schreiben Prof. Dr. Helmut Gründl, Dr. Dieter Köhnlein und Irina Gemmo in diesem Gastbeitrag.

Die Weltassekuranz blickt auf die Entwicklung und die anstehende Implementierung von Solvency II. Die Reaktionen in Nicht-EU-Ländern auf die europäischen Aufsichtsrichtlinien sind sehr unterschiedlich. Während einige international wichtige Versicherungsmärkte, speziell die USA und Kanada, Solvency II eher skeptisch betrachten und von einer Anpassung ihrer ­Aufsichtssysteme absehen, bewerten andere Länder Solvency II als Vorläufer eines künftigen globalen Aufsichtssystems. Sie ändern Regulierung und Aufsicht und sparen sich dadurch Entwicklungskosten.

Einige der Auswirkungen von Solvency II auf die nicht europä­ische Versicherungswirtschaft werden vermutlich erst nach der Implementierung deutlich, doch einige sind bereits jetzt antizipierbar. Da die zweite Säule der europäischen Aufsichtsrichtlinie höhere Anforderungen an das Risikomanagement und die Unternehmensführung von EU-Unternehmen stellt, können Rating-Agenturen diese Anforderungen künftig weltweit als Maßstäbe nutzen, um Unternehmen zu bewerten und die Anforderungen der Säule II damit als globale­ Standards ansetzen. So kündigten Analysten von Standard & Poor’s schon 2009 in dem Artikel „Solvency II: Wounded, but still alive­ and kicking“ an, die Kriterien für das Risikomanagement in Unternehmen, die 2005 festgelegt wurden, mit Hilfe der Anforderungen an das Risikomanagement nach Solvency II, Säule 2, anzupassen.

Ebenfalls von der bevorstehenden Implementierung von Solvency II betroffen sind typische Rückversicherungsstandorte. Erfüllen Rückversicherer, deren Zedenten ihren Sitz in der EU haben, die Solvabilitätsbestimmungen nach Solvency II nicht, kann den EU-Versicherern der Statement Credit für die bei den Rückversicherern platzierte Deckung­ entzogen werden. Dadurch müssten in Nicht-EU-Ländern ansässige Rückversicherer ihren Sitz eventuell in ein EU-Land ver­lagern, sollten die Aufsichtssysteme ihrer jeweiligen Standorte nicht von der EU-Kommission eine Äquivalenz zu den Solvabilitätsricht­linien nach Solvency II bescheinigt bekommen. Wichtige Rückver­sicherungsstandorte außerhalb der EU, wie die Bermudas, die Schweiz und Singapur, haben sich der Äquivalenzprüfung der EU-­Kommission bereits unterzogen. Während Singapur eine volle Äquivalenz zu Solvency II anstrebt, wurde dem Swiss Solvency Tests (SST) bereits die Äquivalenz bestätigt. Der Schweizerische Versicherungsverband ­setzte sich schon früh dafür ein, dass der für Schweizer Versicherer geltende SST gleichwertig zu Solvency II ausgestaltet wird, da strengere Anforderungen an Schweizer Versicherungsunternehmen diese im internationalen Wettbewerb benachteiligen würden und im umgekehrten Fall der Versicherungsplatz Schweiz gegenüber der EU Anerkennung einbüßen würde. Nachdem den Bermudas die Äquivalenz des Aufsichtssystems nur vorläufig und beschränkt auf bestimmte Rückversicherer gewährt wurde, versucht die Bermuda Monetary ­Authority (BMA), Solvency II zu implementieren. Osteuropäische Staaten, die einen EU-Beitritt anstreben, wie beispielsweise Mazedonien, passen ihre Solvabilitätsbestimmungen denen von Solvency II an und bereiten sich mit Hilfe verschiedener Arten der Weiterbildung auf die Implementierung vor. Weitere Märkte, wie Japan, Chile, Hongkong, Israel, Mexiko, Brasilien und die Türkei, implementieren Solvency II oder eine zumindest sehr ähnliche Aufsichtsrichtlinie. In der Türkei gab es beispielsweise schon ab 2008 erste Gesetzesänderungen und Seminare bezüglich der Einführung von Solvency II.

China plant risikobasierten Drei-Säulen-Ansatz
China, das seine Versicherungsaufsichtssysteme schon in der ­Vergangenheit an denen der EU orientiert hat und bereits größere Forschungsarbeit bezüglich der Übertragbarkeit von Solvency II auf die chinesische Versicherungswirtschaft geleistet hat, veröffentlichte 2012 die strategische Planung zum Aufbau des zweiten chinesischen ­Solvabilitätsaufsichtssystems durch die China Insurance Regulatory Commission (CIRC). Sie legte das Ziel fest, innerhalb von drei bis fünf ­Jahren einen risikobasierten Drei-Säulen-Ansatz einzuführen. Im Mai 2013 wurde die „China Risk Oriented Solvency System (C-ROSS)“-Richtlinie offiziell bekanntgegeben, die sich im Wesent­lichen an Solvency II orientiert und an chinesische Besonderheiten angepasst ist. Die Struktur des C-ROSS ist genau wie die von Solvency II in ­quantitative Kapitalanforderungen (Säule 1), qualitative Mindest­anforderungen an das Risikomanagement (Säule 2) und Marktdisziplin­mechanismen (Säule 3) untergliedert. Auch innerhalb der einzelnen Säulen weist ­C-ROSS starke Ähnlichkeiten zu Solvency II auf: in Bezug­ auf ein vorgegebenes Standardmodell als Kalkulationsgrund­lage für die quantitativen Kapitalanforderungen, die Möglichkeit zur Einführung von internen Modellen und die Verwendung des Value at Risk zur Berechnung der Kapitalanforderungen.

Eine ähnliche Problematik bezüglich der Äquivalenz wie für die Rückversicherer ergibt sich auch für Nicht-EU-Versicherer mit Tochtergesellschaften in der EU und umgekehrt. Stark betroffen davon sind die USA. Doch im angelsächsisch geprägten Raum stößt ­Solvency II eher auf Ablehnung. Während Australien und Südafrika die volle Äquivalenz anstreben, zogen sich Kanada und die USA aus dem Prozess der Äquivalenzprüfung zurück. Sie sehen keinen Anlass, ihre Solvabilitätsrichtlinien an Solvency II anzupassen. Zwar sind viele ­Aspekte des kanadischen Aufsichtssystems in Solvency II eingeflossen, doch besteht das wesentliche Hindernis aus kanadischer Sicht darin, dass es unter Solvency II möglich ist, Kapitalanlagen von Ver­sicherungsunternehmen zur Bedeckung inländischer Versicherungsverpflichtungen auch außerhalb der betreffenden Region zu tätigen.

Im Fall USA machte der ehemalige Präsident der National Association of Insurance Comissioners (NAIC), Kevin McCarty, 2012 in ­einem Interview mit dem Magazin „Reactions“ klar, dass die USA kein Interesse daran hat, ihr bewährtes System durch dieselbe Art von Prüfung zu schicken, wie es die Schweiz, die Bermudas und Japan ­getan haben. McCarty war zudem der Ansicht, dass Europa nicht wirklich verstehe, wie das US-System funktioniert. Terri Vaughan, ehemalige CEO der NAIC, erklärte im März 2011 in einem Interview mit Lloyd‘s, dass das Prinzip des Own Risk and Solvency Assessment ­(Orsa) der Säule 2 in Solvency II in den USA auf großen Anklang stößt, während sie das Erreichen einer optimalen Kapitalausstattung durch Verwendung regulatorischer Kapitalanforderungen wie in ­Solvency II, Säule 1, eher skeptisch betrachtet. Auch Ben Nelson, CEO der NAIC, betonte im Juli 2014 in einem öffentlichen Brief an ­Jonathan Faull, den Generaldirektor für Binnenmarkt und Dienstleistungen bei der Europäischen Kommission, dass die Versicherungsregulierer der Vereinigten Staaten keine Äquivalenz anstreben. Er erklärte, dass es zwar möglich sei, die beiden regulatorischen Systeme auf dem Papier zu vergleichen, aber dies in der Praxis eine große Herausforderung darstelle, bevor Solvency II implementiert sei. Einen weiteren Grund für die kritische Sicht auf Solvency II nannte der CEO der XL Group, Michael McGavick, auf dem vierten Bermuda Monetary Authority ­International Regulatory Forum im November 2013. Er warnte davor, Versicherungen mit steigenden Kapitalanforderungen die Fähigkeit zu nehmen, die weltweit ständig steigenden Risiken zu decken, und sprach sich dagegen aus, Versicherungen ähnlich wie Banken verschärften Aufsichtsrichtlinien zu unterstellen, da die Versicherungswirtschaft als Ganzes im Vergleich zum Bankensektor die ­Finanzkrise gut überstanden habe.

EU und USA im Dialog
Um das gegenseitige Verständnis und die Kommunikation zwischen den jeweiligen Aufsichtssystemen zu fördern und wichtige Charakteristika und Schlüsselaspekte dieser herauszuarbeiten, haben sich im Januar 2012 die NAIC, das Federal Insurance Office (FIO), die European Insurance and Occupational Pensions Authority (Eiopa) und die Europäische Kommission auf einen EU-U.S.-Dialog im ­Rahmen des EU-U.S. Mutual Regulatory Understanding Dialogue Project­ verständigt. Eine Anerkennung von Reziprozität zwischen den Regulierungsrichtlinien der EU und der USA ist jedoch ohne ­eine signifikante Annäherung der beiden Aufsichtssysteme nicht realisierbar. Auf einer internationalen Konferenz von Versicherungsexperten Anfang September in London war allerdings von einer aktuellen Initiative in den USA im Konsens von Aufsicht und ­Versicherungsindustrie zu einer Überprüfung des US-Aufsichtssystems zu hören. Man darf jedoch annehmen, dass hierfür einige Jahre benötigt werden. Da ­Solvency II aber die Regulierungsansätze anderer internationaler Märkte schon vor der eigentlichen Implementierung stark beeinflusst hat- und der einzelstaatliche Regulierungsansatz der USA nicht ­kompatibel für einen globalen Regulierungsstandard ist, besteht die Aussicht, dass sich das europäische Aufsichtssystem auch weiterhin auf internationalen Märkten durchsetzen wird. 
Prof. Dr. Helmut Gründl und Irina Gemmo sind für die Goethe-Universität Frankfurt tätig, Dr. Dieter Köhnlein für die Axis Beratungsgruppe. Sie kooperieren im Rahmen der Weiterbildungsinitiative für das leitende Versicherungsmanagement „Frankfurt Insurance Executive Education“.

portfolio institutionell, Ausgabe 9/2014

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