Investoren
17. August 2022

Andere Länder, andere ESG-Sitten

Interessante Einblicke in die Nachhaltigkeitsdiskussion aus Sicht eines Versicherungskonzerns gab Talanx-CFO Jan Wicke auf der diesjährigen Finpro-Veranstaltung. Das ESG-Verständnis unterscheidet sich von Land zu Land. Wichtiger geworden sind aber auch die Messung und die Kommunikation des eigenen ESG-Tuns.

Eine Ted-Umfrage unter den Gästen der 9. Finpro-Veranstaltung auf Schloss Bensberg zu den Top-3-Problemen in den nächsten sechs Monaten ergab nichts völlig Unerwartetes: Zins, Geopolitik und Nachhaltigkeit. Dr. Jan Wicke, Keynotespeaker der Konferenz und hauptberuflich Finanzvorstand der Talanx und des HDI, mahnte auf der Veranstaltung aber auch, das am kleinsten eingeschätzte Problem, Corona, nicht aus dem Blick zu verlieren: „Unsere Pandemieforscher sind für die Zukunft nicht ganz so optimistisch.“ Das Virus werde zwar für die Menschen weniger gefährlich, aber ansteckender. Als CFO einer Versicherung dürfte Wicke weit davon entfernt sein, das Virus zu unterschätzen. Schließlich hat Corona auf Grund der Übersterblichkeit die Versicherung im vergangenen Jahr 600 Millionen Euro gekostet. Im Jahr 2020 waren es sogar 1,5 Milliarden Euro.

Die oben genannten Top-3-Themen sind natürlich auch für Wicke relevant. „Viele Geschäftsmodelle, die stark vom Leverage abhängen, tragen nicht mehr.“ Zudem erwähnte Wicke in seinem Vortrag als für die Anlageseite relevanten Punkt auch den Wechsel von Value zu Growth. Bei einer Sachversicherung belastet Inflation aber auch das operative Geschäft. „Eine höher als erwartet ausfallende Inflation ist schlecht. Schließlich bekommen wir zuerst die Prämien und begleichen dann die Schäden.“

Besonders ausführlich widmete sich Wicke in seiner Rede der Nachhaltigkeit. Wie wohl für die gesamte Branche scheinen auch für Wicke die ESG-Diskussionen um die DWS eine Warnung zu sein, insbesondere bei der Messung möglichst akkurat und präzise sowie bei der Kommunikation nicht zu offensiv vorzugehen. Dieses Vorgehen soll dazu beitragen, sich so wenig angreifbar wie möglich zu machen. „Wir messen sehr genau“, betonte CFO Wicke. Dass der Talanx-Konzern seine nachhaltigen Investitionen für Ende 2021 mit 7,2 Milliarden Euro ausweist, also mit lediglich 4,9 Prozent seiner 148 Milliarden Euro an Kapitalanlagen, lässt sich als Folge dieses defensiven Ansatzes interpretieren. 2025 sollen es acht Milliarden Euro sein. Zudem bekennt sich der Talanx-Konzern, wie andere Versicherungen auch, zu Netto-Null-Emissionen in der Kapitalanlage bis zum Jahr 2050. Als Zwischenschritt beabsichtigt die Versicherungsgruppe bis zum Jahr 2025, die CO₂-Intensität ihrer liquiden Portfolios um 30 Prozent gegenüber dem Basisjahr 2019 zu reduzieren.

Talanx-spezifisch sind dagegen die ESG-Herausforderungen, die sich aus der eigenen Größe ergeben. Die Versicherung ist in über 150 Ländern unterwegs, wobei Brasilien nicht erst seit einer kürzlich erfolgten Akquisition im dortigen Versicherungsmarkt durch den HDI ein besonders wichtiger Auslandsmarkt speziell für Autoversicherungen ist. „In Brasilien hat man eine andere ESG-Sicht“, erklärte Wicke, und diese erfordere Anpassungen. Dies gelte zum Beispiel für die Kapitalanlagen, da der dortige Regulator brasilianische Assets sehen will.

Ein Finpro-Gast, der diesbezüglich seine Erinnerungen an seine einstige Tätigkeit für einen anderen großen Versicherungskonzern mit portfolio institutionell teilte, erklärte, dass es sich bei der Allokation in die dortigen Assets nicht unbedingt um eine regulatorische Pflicht handelt. Vielmehr seien diese Anlagen von der Erwartung getrieben, dass man bei Problemen eher Unterstützung von der jeweiligen Regierung eines Auslandsmarkts erwarten darf, wenn man auch deren Anleihen hält. Zudem sind natürlich auch im Fall von Brasilien wegen der dortigen Inflation Bundesanleihen für das ALM wenig zweckmäßig. Allerdings drücken brasilianische Anleihen und Aktien auf den ESG-Score der Versicherung. Darum wählt die Talanx den Ansatz, in jedem Land besser als der dortige ESG-Score zu sein. „Ich plädiere für eine relative Sicht“, erklärte Wicke. „Als Konzern braucht man eine gewisse Flexibilität in der ESG-Zielsetzung pro Land.“ Ein solcher Ansatz klingt schon wegen der von Land zu Land unterschiedlichen Nachhaltigkeitsdefinitionen pragmatisch.

Das Beispiel Brasilien scheint jedoch schlecht gewählt. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro ist unter anderem für seine homophoben, frauenfeindlichen und rassistischen Ausfälle sowie für großflächige Regenwald-Rodungen berüchtigt. Prompt kam aus dem Publikum die Frage, ob ESG denn immer relativ zu sehen sei, oder ob man auch Überzeugungen habe? Wicke entgegnete, dass man durchaus Überzeugungen habe und führte als Beispiele Übergreifendes wie den UN Global Compact oder den Ausschluss von Streumunition an. Jedoch sei man nicht so überzeugt – wohl auch nicht von sich selbst –, dass man beispielsweise Frankreich auffordere, auf Atomenergie zu verzichten. Wie Wicke zudem zuvor ausführte, seien die von NGOs geforderten Ausschlüsse kritisch, weil sie das Universum verkleinern und Renditechancen mindern. Jedoch zeigen viele Studien, dass man auch mit einem kleineren Universum den Markt schlagen kann. Grundsätzlich zutreffend ist aber Wickes Argument, dass sich bei einem Ausschluss keine Transformation gestalten lässt. Wicke nannte als Beispiel RWE, das nicht nur für Kohle, sondern auch für grüne Energie stehe. „Wenn wir solche Unternehmen ausschließen, würde die Transformation leiden.“

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