Strategien
1. November 2011

Interview: Zwischen Modellannahmen und Realität liegen Welten

Die Krise hat Zweifel am Nutzen finanzmathematischer Modelle geschürt. Unter Wirtschafts- und Finanzwissenschaftlern wird kontrovers diskutiert. portfolio institutionell sprach mit Hellmuth Milde, Gastprofessor an der Universität Luxemburg.

portfolio institutionell: Finanzmathematische Modelle sind in den vergangenen Jahren gerade im Risikomanagement stark in Mode gekommen. Die aktuelle Krise lässt erhebliche Zweifel an deren Tauglichkeit für die Praxis aufkommen. Welche Position beziehen Sie in dieser Hinsicht?
Hellmuth Milde: Schon bei Wilhelm Busch heißt es: „Stets findet Überraschung statt, da, wo man´s nicht erwartet hat.“ Und was ich nicht erwarten kann, kann ich auch nicht berechnen. Und wenn ich nichts berechnen kann, kann ich auch keine Kennzahlen kalkulieren, die Aussagen über die Zukunft ermöglichen. Damit ein Banker oder Asset Manager solche Zahlen präsentieren kann, muss er der Zukunft sozusagen die Vergangenheit überstülpen. Ökonomen setzen Verteilungsfunktionen ein, die auf historischen Daten basieren; Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang vom „Prinzip Hoffnung“.
Wo liegen die Schwierigkeiten bei der Nutzung von Verteilungsfunktionen beispielsweise im Risikomanagement?
Man ist sich schon konzeptionell gar nicht einig, was überhaupt unter Risiko zu verstehen ist. Aber alle gängigen Risikomodelle kranken an einer Annahme: Sofern sie mit Verteilungsfunktionen arbeiten, unterstellen sie symmetrisch verteilte Informationszustände. Man arbeitet mit einem repräsentativen Marktteilnehmer, das heißt alle Akteure haben gleiche Erwartungswerte, Volatilitätserwartungen und so weiter. Damit werden sämtliche Informationsunterschiede systematisch wegdefiniert.
Und dadurch ergeben sich bei der Anwendung Schwierigkeiten?
So ist es. In der Realität gibt es Informationsinsider und -outsider. Denken Sie beispielsweise an den Verbriefungsmarkt. Jede Informationsproduktion, -beschaffung und -verteilung ist kostspielig. Da die Theorie aber nur Informationssymmetrien kennt, ist alles, was Praktiker auf diesem Gebiet machen, für den Theoretiker unverständlich, sinnlos und irrational. So einfach ist das.
Woher kommt dann der Erfolg dieser Modelle?
Der ganze Siegeszug der Markowitz-Theorie ist nur dadurch zu erklären, dass diese einfach die Standardabweichung, Volatilität oder Varianz zum universellen Risikomaß erklärt hat. Damit gibt es plötzlich eine recht einfach zu kalkulierende Zahl, die man den Praktikern an die Hand geben kann und mit der diese Vergleichsrechnungen anstellen und Risikomanagement betreiben können.
Was gibt es für Alternativen?
Wir schlagen die Anwendung spieltheoretischer Konzepte vor, weil man hier auf beiden Seiten des Marktes aktive Entscheidungsträger hat. Wenn man Verteilungsfunktionen nutzt, ist es wie beim Roulette: Die Roulettekugel reagiert nicht auf Entscheidungen der Spieler, die somit quasi gegen die Natur spielen. Man spielt gegen einen passiven Gegner. In den traditionellen finanzwirtschaftlichen Modellen ist das genauso: Man unterstellt perfekt kompetitive Märkte. Die Entscheidungsträger reagieren auf Preise, treffen aber selbst keine Preisentscheidungen. Überträgt man diesen Ansatz auf die Realität, würde dies beispielsweise bedeuten, dass die Aktienkurse von einer herdengetriebenen Investorenschar nicht beeinflusst werden können. Eine solche Annahme halte ich fast schon für pervers. Und solche Annahmen stecken explizit oder implizit in allen gängigen Modellen.
Und hier könnten spieltheoretische Konzepte Abhilfe schaffen?
Durchaus. Die Herausforderung in den Sozialwissenschaften besteht anders als in den Naturwissenschaften darin, dass die Spielregeln nicht quasi gottgegeben sind, sondern von den Akteuren geändert werden. Hieraus ergeben sich nicht nur Zustandsrisiken, sondern auch Verhaltensrisiken.
Könnten Sie das etwas verdeutlichen?
Jeder Marktteilnehmer möchte aus seiner Sicht vorteilhafte Transaktionen durchführen. Insider können dabei ihren Informationsvorsprung ausnutzen. Outsider kennen diese Gefahr und können mit dem Abbruch der Geschäftsbeziehung drohen. Wenn beide Seiten an der Fortsetzung der Beziehung interessiert sind, werden sie die Vorteile so aufteilen, dass jeder seine Interessen gewahrt sieht. Man spricht von Anreizverträgen. Genau dieser Vertragstyp ist das Gebot der Stunde.
Lassen sich solche Aspekte auch in „klassische“ Modelle integrieren?
Sobald ich mit Dichte- oder Verteilungsfunktionen arbeite, habe ich keine Chance mehr, Anreizmechanismen zu berücksichtigen. Die gibt es da nicht. Die sind definitionsgemäß weg, weil wir mit repräsentativen Individuen arbeiten. In der Realität stehen und fallen die ganzen Geschichten an den Finanzmärkten mit Anreizen. Und genau diese lassen sich in die Standardmodelle nicht einarbeiten.
Und ohne sie kommt man nicht aus?
Die Entwicklungen im Bankensektor liefern einen überzeugenden Nachweis dafür, dass Anreizmechanismen eine durchschlagende Wirkung haben. Wenn man die handelnden Individuen mit neuen Anreizen und Rahmenbedingungen konfrontiert, werden sie auch ihr Verhalten ändern. Wer das in seinen Modellen ignoriert, erhält den größten Blödsinn. Um Anreizmechanismen zu studieren, braucht man Anreizmodelle. Effizienzmodelle sollten entsorgt werden.
Ist demnach der allzu naive Umgang mit unzureichenden Modellen eine Ursache für die aktuelle Krise?
Auf jeden Fall! Dabei werden bisher in erster Linie die Bankmanager für die Krise verantwortlich gemacht. Aber woher haben diese Manager ihre Weisheiten? Sie haben ihre Lektionen an deutschen und internationalen Fakultäten gelernt. Ein Blick auf die Lehrpläne zeigt, dass hier die Effizienzmodelle klar dominieren. Insofern haben die Banker aus meiner Perspektive nur eine Teilschuld. Einen guten Teil der Schuld für das Chaos im Finanzsektor tragen die Universitäten und Hochschulen, die in ihren Hörsälen falsche und für die Praxis untaugliche Modelle lehren.
Haben Sie das nicht selbst getan?
Ich muss gestehen, dass ich bis vor fünf Jahren all diese Geschichten auch laut und vernehmlich gepredigt habe. Seit meinem Ausscheiden aus dem normalen Universitätsbetrieb habe ich Zeit gehabt, all diese Dinge mit etwas mehr Abstand anzuschauen und zu überdenken. Dabei fiel mir auf, dass die Modellannahmen und das, was sich in der Realität abspielt, überhaupt nicht mehr zusammenpassen. Da liegen wirklich Welten dazwischen.
Haben auch die Regulatoren und Marktaufseher in der Krise versagt?
Auch die ganze Regulierungsdebatte krankt an der Tatsache, dass die handelnden Personen von einem falschen Weltbild, von falschen Grundvoraussetzungen ausgehen. Wer glaubt, dass ein Fußballspiel abläuft wie ein Handballspiel und entsprechende Spielregeln festsetzt, der muss damit einfach scheitern. Alle in der Praxis so immens wichtigen Aspekte, die mit Informationsproblemen zu tun haben, können mit den aktuellen theoretischen Werkzeugen gar nicht verstanden werden. Und wenn man sich bei all seinen Bemühungen zur Krisenbewältigung und Regulierung auf ein systematisch falsches Weltbild stützt, erscheint es doch hoffnungslos, damit eine nachhaltige Abhilfe zu schaffen.
Das Gespräch führte Ralf Kolbe.
portfolio institutionell newsflash 02.11.2011/rko
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