Investoren
1. März 2024

Jede Stimme zählt

Mit der zunehmenden Bedeutung von Nachhaltigkeitszielen möchten sich immer mehr Investoren auch bei Hauptversammlungen aktiv einbringen. Die Möglichkeiten dazu nehmen auch außerhalb von Spezialfonds und Mandaten deutlich zu. So bieten erste Asset Manager ihren Kunden auch Anwendungen, die eine individuelle Stimmrechtsausübung für Publikumsfondsanlagen ermöglichen.

Die Hauptversammlung gilt als der Ort, an dem Aktionäre ihrer Stimme mit ihrem Kapitaleinsatz Gewicht verleihen können. Traditionell entscheiden meist die Vermögensverwalter über die Stimmabgabe der von ihnen verwalteten Kundengelder – und das nach ihren selbstformulierten Kriterien. Mit ambitionierteren Nachhaltigkeitszielen und regulatorischen Anforderungen zu Transparenz und Engagement gewinnt die Stimmrechtsausübung seit Jahren aber zunehmend an Bedeutung. Institutionelle Kunden beschäftigen sich intensiv mit den Richtlinien ihrer Manager. Und Investoren möchten zunehmend eigene Vorstellungen im Abstimmverhalten für ihre Anlage zum Ausdruck bringen: Dazu bieten sich ihnen zunehmend mehr Möglichkeiten.

„Engagement mit Aktiengesellschaften ist heute multi-dimensional und entwickelt sich rasch weiter“, heißt es in einer Analyse des European Corporate Government Institute: Die Ausübung des Stimmrechts spielt dabei eine bedeutende Rolle. Das Aufkommen von ESG-Zielen und das zunehmende Engagement prägen immer stärker das Abstimmverhalten; Aktionärsanträge zu sozialen und Nachhaltigkeitsthemen häufen sich. Die Regulatorik verstärkt die Entwicklung: So verpflichtet die EU-Aktionärsrechterichtlinie institutionelle Anleger zur Offenlegung ihres Engagement-Ansatzes. Stewardship-Kodizes fordern institutionelle Asset Manager auf, sich proaktiv in die Unternehmensstrategie einzubringen: unter anderem mit ihrem Stimmrecht und über den Dialog.

Asset Owner möchten eigene Akzente setzen

Große, globale Aktienmanager stimmen üblicherweise bei mehr als 10.000 Hauptversammlungen über weit mehr als 100.000 Anträge ab, einige Tausend davon sind Aktionärsanträge zu ESG-Themen. „Wir betrachten die Stimmrechtsausübung als einen zentralen Bestandteil unserer Prozesse bei Investments, Stewardship und unserer treuhänderischen Pflicht bei der Verwaltung des Vermögens unserer Kunden“, heißt es bei Allianz Global Investors. Gerade im aktiven Management komme den Stimmrechten eine große Bedeutung zu, so der Vermögensverwalter der Allianz.

Die Asset Manager üben für die überwältigende Mehrheit ihrer ­Publikumsfondsgelder sowie zahlreiche Spezialfondsanlagen die Stimmrechte gemäß ihrer eigenen Proxy Voting Policy aus. Das Proxy Voting Council, in dem meist Stewardship-Experten sowie Vertreter von Investment-, Legal- und Compliance-Teams vertreten sind, überprüft und überarbeitet die jeweilige hauseigene Policy regelmäßig. Doch immer mehr institutionelle Kunden möchten nicht nur bestens über das Abstimmungsverhalten informiert sein, sondern auch eigene Akzente im Rahmen ihrer Vorstellungen und Ziele setzen. Dazu haben sie in ihren Spezialfonds und Mandaten je nach vertraglicher Vereinbarung regelmäßig die Möglichkeit, selbst abzustimmen oder einen externen Dienstleister zu beauftragen.

In aktiven und passiven Publikumsfonds mit teils tausenden von Investoren entscheidet aber noch immer in der Regel der Asset Manager nach seiner Policy. Doch auch hier kommt Bewegung in den Markt. So können Fondshäuser über innovative Voting-Plattformen den Investoren in ihren Publikumsfonds und ETFs ermöglichen, für ihren eigenen Fondsanteil im Einklang mit eigenen Richtlinien abzustimmen oder eigene Präferenzen an ihren Asset Manager durchzureichen.

Ein neuer Anbieter auf diesem Gebiet ist das britische Unternehmen Tumelo, dessen Anwendung neben Fidelity auch der Fondsanbieter LGIM für institutionelle Kunden in UK wie den Camden Pension Fund nutzt. „Bei Publikumsfonds waren wir früher gezwungen, die Richtlinien-Politik der Fondsmanager zu akzeptieren“, erklärt Camden-Chairman Rishi Madlani; das habe teils zu Abstrichen bei der Konsistenz und Widersprüchen im Abstimmungsverhalten geführt. Nach eigenen Angaben ist Tumelo mit weiteren Vermögensverwaltern und Asset Ownern auch in Deutschland in Gesprächen.

Ein alternatives und nicht an eigene Kunden gebundenes Mitwirkungsprogramm bietet der Vermögensverwalter Columbia Threadneedle Investments mit dem Responsible Engagement Overlay Service (Reo): Dabei treten Anleger zwar ihre Stimmrechte umfassend ab, tragen zugleich aber mit der regelmäßigen Angabe ihrer Prioritäten zu den einheitlichen Abstimmungsregeln bei. Der Vorteil: Mit insgesamt 1,1 Billionen US-Dollar an einheitlich abstimmenden Vermögen soll Reo eine starke Meinung einheitlich artikulieren. Denn die Kehrseite der individualisierten Abstimmungen ist auch klar: Je fragmentierter die Stimmmacht ist, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, eine kritische Masse in den Abstimmungspunkten zu erreichen.

Wenn es um wichtige Proxy-Benchmark-Policies und Proxy Voting geht, sind die beiden Firmen Glass Lewis und Institutional Shareholder Services (ISS) – eine Tochterfirma der Deutschen Börse – die Platzhirsche. Beide vereinen nach Schätzungen weit mehr als 97 Prozent des Marktes auf sich. Auch in Deutschland mischen die Branchenriesen mit ihrem Research-Material, ihrem technischen Support und ihren Proxy-Voting-Benchmarks kräftig mit – und zwar sowohl bei Asset Managern als auch Asset Ownern: Immer mehr Asset Owner wählen im Rahmen eines direkten Beratungsvertrags für ihre Mandate und Spezialfonds die Stimmrechts­politik, die ihren Richtlinien am besten entspricht: Dabei kann es sich um eine Benchmark des Proxy Advisors, eine thematische Benchmark oder eine individuelle Benchmark des Asset Owners handeln.

Eine Umsetzungsmöglichkeit: Der Vermögenseigentümer weist seinen Vermögensverwalter an, nach seinen Wünschen abzustimmen, etwa über Vote-Preference-Lösungen. „Dieser Ansatz wird zunehmend genutzt“, erklärt Lorraine Kelly, Global Head of Investment Stewardship bei ISS. Eine Alternative: Über einen direkten Vertrag kann der Vermögenseigentümer über die Proxy-Exchange-Plattform selbst abstimmen. Oder: Der Asset ­Manager hat seinerseits einen direkten Beratungsvertrag mit dem Proxy Advisor. Die Asset Owner können sich nach Prüfung dessen Kriterien anschließen. Eine entsprechende Konstellation verfolgt etwa die Kirchliche Versorgungskasse KZVK.

In allen Fällen erfolgt die effektive Stimmabgabe letztlich oftmals über die Proxy-Voting-Systeme der Anbieter. Die Proxy Advisor geben mit ihrer Benchmark Policy die Richtung für das Stewardship- und Abstimmverhalten vieler Asset Manager und Asset Owner zu einem großen Teil vor. Einigen Gruppen ging es beim Thema Nachhaltigkeit zuletzt teils etwas zu langsam: So forderte die Institutional Investors Group for Climate Change in einem öffentlichen Brief ISS auf, für die 2024er HV-Saison eine dezidierte Netto-Null-Policy anzubieten und Klimaaspekte insgesamt noch stärker zu berücksichtigen. Die Schaffung einer Netto-Null-Richtlinie würde Anlegern eine Wahlmöglichkeit bieten, die ihren Bedürfnissen entspricht, so die Unterzeichner, zu denen neben Vermögensverwaltern wie Axa Investment Managers oder Storebrand Asset Management auch Pensionskassen wie Stichting Pensioenfonds IBM Nederland zählen.

Auch beim effektiven Abstimmungsverhalten zeigen sich deutliche Unterschiede: So liegen in Europa die Zustimmungsquoten für ESG-bezogene Aktionärsanträge weitaus höher und europäische Asset Manager wie Asset Owner forcieren die Anstrengungen weiter. In die andere Richtung geht der Trend in den USA, wo die großen drei Manager Blackrock, State Street und Vanguard zusammen zwischen 15 und 20 Prozent der meisten großen US-Aktiengesellschaften kontrollieren und für einen Großteil davon die Stimmrechte ausüben. Seit zwei Jahren aber geht deren Unterstützung ESG-bezogener Anträge in den USA deutlich zurück: So unterstützte der ETF-Riese Vanguard 2023 gerade einmal zwei Prozent der Aktionärsanträge in den Bereichen Nachhaltigkeit und Soziales, im Vorjahr lag der Anteil noch bei zwölf Prozent.

Blackrock unterstützte in der Berichtssaison bis Juni 2023 etwa sieben Prozent aller entsprechenden Anträge, nach 22 Prozent im Jahr 2022 und fast 50 Prozent im Jahr 2021. Viele der Aktionärsanträge würden mit spezifischen Maßnahmen einschließlich Änderungen in der Unternehmensstrategie oder im Geschäftsbetrieb zu weit gehen, heißt es dazu bei Vanguard. Kritiker vermuten dahinter zumindest zum Teil auch eine Reaktion auf die Gegenbewegung in den USA. Vor allem von republikanischer Seite wurden Asset Manager in den vergangenen Jahren heftig für ihre Nachhaltigkeitsanstrengungen kritisiert. Vergangenes Jahr erklärte Blackrock-CEO Larry Fink, das Wort ESG nicht mehr zu verwenden. Vanguard hatte 2022 die Net Zero Asset Manager Initiative verlassen.

Zugleich verlagern auch in den USA Asset Manager die Abstimmungsverantwortung auf die Investoren: So hat etwa State Street Global Advisors seinen US-Anlegern zuletzt mehr Möglichkeiten eingeräumt, über ihre Stimmabgabe im Zuge einer dezentralen Stimmrechtsvertretung selbst zu entscheiden. Vanguard testet ein ähnliches Verfahren bei einigen Indexfonds in den USA. Was Befürworter für eine Demokratisierung der Stimmrechtabgabe halten, könnte nach Meinung von Kritikern auch andere Ursachen haben: Wer anderen die Entscheidung überlässt, muss sich schließlich weder vor Klimaaktivisten noch Klimaleugnern verantworten.

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