Corporates
19. November 2012

Niedrigzinsniveau: Freud und Leid zugleich

Unternehmen können sich derzeit am Bondmarkt so günstig finanzieren wie nie zuvor. Zugleich treiben die Niedrigzinsen jedoch die Pensionslasten in die Höhe. Verschärfend hinzu kommen die neuen Bilanzierungsvorschriften, die ebenfalls ihre Spuren auf der Verpflichtungsseite hinterlassen werden.

Unternehmensanleihen sind Investors Liebling. Denn viele Anleger­ vertrauen soliden Unternehmen aus Euro­kernländern­ inzwischen mehr als maroden Eurostaaten und greifen beherzt zu, wenn neue Corporate Bonds an den Markt kommen – selbst wenn die Renditen nur mau sind. Bestes Beispiel ist Siemens. Der Technologie­konzern hat sich im September über Anleihen mit verschiedenen Laufzeiten so günstig finanziert wie kein anderes Unternehmen in Europa zuvor. Für die 7,5-jährige Anleihe liegt der Zins­kupon bei 1,5 Prozent, für die zweijährige bei 0,375 Prozent. Trotz derart­ magerer Zinsen rissen die Anleger, vornehmlich deutsche und französische Investoren, dem Unternehmen die Papiere aus der Hand. Problemlos hätte Siemens sogar ein noch größeres Volumen als 2,7 Milliarden Euro­ am Markt platzieren können. Finanzvorstand Joe Kaeser­ zeigte sich zufrieden: „Unsere Absicht, teures Eigenkapital mit historisch preiswertem Fremdkapital zu ersetzen, wird umfänglich umgesetzt.“

_Niedrigzins treibt Pensionslasten in die Höhe

Siemens ist längst nicht das einzige Unternehmen, das die günstigen Finanzierungkosten am Bondmarkt derzeit nutzt. Laut dem „Credit­ Market Research“ von Fitch-Rating haben sich europäische Unternehmen im ersten Halbjahr 2012 erstmalig mehr Fremdkapital über Anleihen als über Bankkredite besorgt. Insgesamt sei ein Volumen von rund 241 Milliarden Euro an Bonds emittiert worden, was 52 Prozent der gesamten Neufinanzierung ausgemacht hat. Zweifellos haben also nicht nur Investoren ihre Liebe zu Corporate Bonds entdeckt, sondern auch die Unternehmen selbst. So groß jedoch die Freude­ über das Niedrigzinsumfeld bei den Unternehmen, die als Schuldner Verbindlichkeiten eingehen, auf der einen Seite sein mag, so groß ist zugleich auch ihr Leid. Denn die sinkenden Zinsen treiben die Pensionsverpflichtung immer weiter in die Höhe.
Mit diesem Problem haben die Unternehmen bereits seit fast ­einem Jahr zu kämpfen. Denn seither ist der Rechnungszins, der zur Bewertung der Pensionen herangezogen wird, kontinuierlich gefallen. Wie Zahlen­ aus dem Hause Towers Watson zeigen, lag der Rechnungszins Ende November 2011 bei fast sechs Prozent, einen Monat später, also Ende 2011, bei 5,5 Prozent. Damit war das Ende­ der Fahnenstange aber längst nicht erreicht. Im Laufe dieses Jahres begann sich die Abwärtsspirale noch schneller zu drehen. Nach Berechnungen von Towers Watson lag der Rechnungszins Ende August bei 3,5 Prozent. „Der Rechnungszins ist in diesem Jahr ziemlich weit nach unten gegangen. Das kann sich bis zum Jahres­ende allerdings noch kräftig ändern. Wir sehen bereits, dass der Zins wieder etwas nach oben geht“, erklärt Alfred-­E.­ Gohdes, Leiter Actuarial Consulting bei Towers Watson. Und tatsächlich: Ende September lag der Zins mit 3,6 Prozent etwas über dem Vormonatswert. Sollte­ es jedoch nicht weiter aufwärts gehen und bei dem derzeitigen Niedrigzins bleiben, wird sich dies auf die Pensionsverpflichtungen­ enorm auswirken. Wie enorm, lässt ein Blick auf Zahlen zum ersten Halbjahr 2012 erahnen, als der Rechnungszins bei rund vier Prozent lag. Die Pensionsverpflichtungen der Dax-Unternehmen sind gegenüber Ende 2011 um 22 auf 280,5 Milliarden Euro gestiegen, bei M-Dax-­Unternehmen von 34 auf 36,6 Milliarden Euro.

Maßgeblich für die Berechnung des Rechnungszinses sind die Renditen der in Euro denominierten Unternehmensanleihen guter Bonität. Was genau sich hinter einer guten Bonität verbirgt, lässt der Standard offen. „Die im Moment herrschende Meinung ist, dass Unternehmen mit einem AA-Rating als hochwertig angesehen werden“, erklärt Thomas Hagemann, Chefaktuar bei Mercer, die gängige Praxis.­ Hier lauert allerdings ein Problem. Zwar begeben immer mehr Unternehmen Anleihen, doch handelt es sich dabei meist um Bonds mit relativ kurzen Laufzeiten. Für die Ermittlung des Rechnungszinses sind jedoch nur Langläufer von Belang, und gerade hier wird die Luft dünn. Das weiß auch Hagemann: „Wenn wir in die langen Laufzeiten kommen, wird es eng. Oberhalb von zehn Jahren findet man noch eine Handvoll Anleihen, oberhalb von 20 Jahren findet man dann schon nichts mehr.“
Für den Fall, dass nicht ausreichend Referenzrenditen von AA-Unternehmensanleihen mit langen Laufzeiten vorhanden sind, um den Rechnungszins zu ermitteln, gibt der Standard vor, die Kurve zu extrapolieren. Wie genau dies auszusehen hat, wird ebenfalls nicht verraten. „Es gibt unterschiedliche Auffassungen unter den Gutachtern und Wirtschaftsprüfern, wie das Extrapolieren der Kurve zu erfolgen hat. Alle Verfahren sind berechtigt und mathematisch vernünftig. Aber weil es nur wenig Langläufer gibt, führen bereits kleine Unterschiede an dieser Stelle zu relativ großen Unterschieden im resul­tierenden Rechnungszins“, so Hagemann. Deshalb hält er es für un­erlässlich, die Daten­basis so groß wie möglich zu halten­ und ge­gebenenfalls an der gängigen Praxis etwas zu ändern. „Die Anzahl der Unter­nehmen mit einem AA-Rating wird immer kleiner. Irgendwann ist die Grenze erreicht, an der man keinen vernünftigen Rechnungszins mehr ermitteln kann“, so der Mercer-Chefaktuar.

Diese Grenze scheint allmählich näher zu rücken. Denn seit knapp 20 Jahren schrumpft das Universum. Während AA-geratete Unternehmen 1993 einen Anteil von 18 Prozent am gesamten Investment-Grade-Universum hatten, sind es inzwischen nur noch sieben Prozent. Aufgrund dieser Marktveränderungen hält es Hagemann durchaus für angebracht, über die gängige Praxis zur Ermittlung des Rechnungszinses nachzudenken: „Wer sagt eigentlich, dass Anleihen mit einem AA-Rating die Basis sein müssen? Im Standard steht dazu nichts, dort ist lediglich von hochwertigen Anleihen die Rede.“ Weniger kritisch beurteilt Towers Watson die Lage. „Wir sehen im Moment keinen Bedarf, an unserem Modell zur Berechnung des Rechnungszinses etwas zu ändern“, erklärt Gohdes. Zwar sieht auch er, dass am langen Ende nicht mehr viele Anleihen gehandelt werden. Mit etwa 20 Stück, darunter General­ Electric, EdF, Walmart und die Rabobank, hält er das Universum jedoch für hinreichend groß: „Es ist kein riesiger Markt, aber er ist ausreichend für uns. Von dem Punkt, an dem es kritisch wird, sind wir noch weit entfernt.“ Ungeachtet dessen beo­bachtet auch Towers Watson die Entwicklung der Ratings genau und untersucht, ob Anlass zu Änderungen besteht. „Wir testen derzeit ­unsere Kurve mit Blick auf A- und AAA-Anleihen“, so Gohdes.

Trotz des stetig kleiner werdenden Universums an langlaufenden AA-Unternehmensanleihen hat der Standardgeber bislang das Thema Zinsermittlung nicht angefasst. So ist auch in den neuen Bilanzvorschriften, die Unternehmen ab 2013 für alle dann beginnenden Geschäftsjahre anwenden müssen, kein Sterbenswort zu finden. „Dieses Thema haben die Standardgeber in den neuen IAS 19 bewusst vermieden, da man sonst den Zeitplan nicht hätte halten können“, merkt ­Hagemann an. „Im ersten Schritt hat man mit dem neuen Standard nur die Dinge umgesetzt, die weniger strittig sind und von denen man ausging, dass sie sich in dem Zeitrahmen von zwei Jahren umsetzen lassen“, fügt er hinzu. Aber auch diese Änderungen haben es in sich und werden in den Pensionsverpflichtungen Spuren hinterlassen.
So darf zum Beispiel in Zukunft nicht mehr die Korridormethode ­verwendet werden. Stattdessen muss der volle Verpflichtungsumfang abzüglich des Planvermögens in der Bilanz abgebildet werden. Bei ­To­wers Watson geht man davon aus, dass sich der Effekt auf das Eigenkapital der Dax-Unternehmen auf rund acht Milliarden Euro ­belaufen wird. „Das heißt, etwa drei Prozent des Eigenkapitals der Dax-Unternehmen wird abschmelzen. Das ist nach unseren Informationen keine­ Katastrophe. Denn zwei Drittel der Dax-Unternehmen werden davon nicht betroffen sein, weil sie bereits ab 2005 freiwillig auf die neue OCI-Methode umgestellt haben“, erklärt Gohdes. Betroffen sind somit nur etwa ein Drittel der Dax-Unter­nehmen.

_Hohes Risiko lohnt sich nicht mehr

Nicht nur die Bilanz der Unternehmen ist von den neuen IAS 19 tangiert. Auch für die Gewinn- und Verlustrechnung ergibt sich eine Änderung. Bislang haben Unternehmen am Jahresanfang immer eine Schätzung abgegeben, mit welchem Ertrag sie bei ihrem Planvermögen langfristig rechnen. Dieser erwartete Ertrag fällt künftig weg und wird durch den Rechnungszins ersetzt. Dies kann abhängig von der Anlagestrategie des jeweiligen Unternehmens zu gravierenden Unterschieden im Jahresaufwand führen. Denn gerade Unternehmen mit hohem Aktienanteil im Planvermögen hätten nach der alten IAS 19 wohl einen­ erwarteten Ertrag von acht Prozent angesetzt, was deutlich über dem aktuellen Rechnungszins von rund vier Prozent liegt. Wie hoch die Belastung für die Dax-Unternehmen sein wird, lässt sich im Moment jedoch nicht genau beziffern. Sowohl Towers Watson als auch Mercer­ rechnen mit einer guten halben Milliarde Euro zusätz­lichen Aufwand pro Jahr für alle Dax-Unternehmen zusammen.

Warum der Standardgeber Schätzungen zum Ertrag nicht mehr erlauben will, lässt sich nur vermuten. In der Vergangenheit stand zumindest immer wieder der Vorwurf im Raum, dass Unternehmen den erwarteten Ertrag zu hoch angeben und so ihre Gewinn- und Verlustrechnung schönen. „Auf den ersten Blick wirken die Prozentsätze, die angesetzt werden, relativ hoch. Aber wenn man sich ansieht, was die Unternehmen tatsächlich erwirtschaften, wie sie ihr Asset Management betreiben und am Ende als Erfolg aufzeigen können, dann sind die Unternehmen tatsächlich überdurchschnittlich gut“, erklärt Hagemann. Und weiter: „Unseres Erachtens besteht kein Grund anzunehmen, dass Dax-Unternehmen in irgendeiner Form etwas geschönt haben. Die angesetzten Werte sind im Großen und Ganzen realistisch.“ Nichtsdestotrotz ist es damit nun vorbei.
Auch wenn ein Unternehmen sechs bis sieben Prozent mit seinem Planvermögen erwirtschaftet,­ darf es trotzdem in der GuV ab 2013 nur den Rechnungszins ansetzen. Dadurch werden systematisch versicherungsmathematische Gewinne erzeugt, die direkt gegen das Eigenkapital gebucht werden. „Das hätten die Unternehmen natürlich lieber als Ertrag“, so Hagemann. Aus dieser Perspektive betrachtet fehlt den Unternehmen künftig somit der Anreiz, hohe Aktienquoten im Planvermögen zu fahren. Denn in der GuV darf ohnehin nur noch ein normierter Ertrag in Höhe des Rechnungszinses angesetzt werden. Risiko wird von der Rechnungslegung nicht mehr belohnt. „Ein Grund für die mögliche Ausrichtung der Kapitalanlage, nämlich die Auswirkung auf die GuV, entfällt mit dem neuen Standard. Eine riskante Kapitalanlage ist dann nicht mehr vorteilhaft“, so Hagemann.
Er sieht darin allerdings kein Problem: „Die Unternehmen können sich ganz darauf konzentrieren, eine sinnvolle Anlagestrategie in ihrem Planvermögen zu etablieren, und müssen keine Folgewirkungen in der Rechnungslegung fürchten.“ Hagemann stellt sogar die These auf: „Es mag einige Unternehmen geben, die mehr Aktien haben, als sie eigentlich wollen, dort aber bisher nicht rauskamen, weil sie sich dies nicht von der Rechnungslegung her leisten konnten.“ Mit einer Fluchtwelle aus der Asset-Klasse Aktien rechnet der Mercer-Mann aber nicht.

Eine weitere Änderung im neuen Standard betrifft die zusätz­lichen Angaben im Anhang. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Risiken­ der Versorgungswerke, über die künftig ausführlich zu berichten ist. Anzugeben sind unter anderem die Art der Leistungen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Verantwortlichkeiten Dritter. „Das ist nicht nur eine quantitative Herausforderung, sondern auch eine qualitative. Beim Thema Risiko reden wir nicht nur über Zahlen, sondern auch Einschätzungen. Das hat eine andere Qualität als frühere Anhangangaben, in denen man das Ganze checklistenartig abhaken konnte“, so der Mercer-Chefaktuar.
Grundsätzlich begrüßt er diese Änderung, weiß aber: „Unter Umständen müssten die Unternehmen hier eigentlich unangenehme Aussagen zu ihren Versorgungswerken machen, mit denen sie sich zumindest öffentlich nicht gern beschäftigen.“ Auch wenn die Unternehmen in diesem Punkt sicher­ noch einige Hausaufgaben zu erledigen haben, sind sie auf die neuen Bilanzvorschriften gut vorbereitet. Einige Unternehmen sollen sogar darüber nachdenken, schon vor 2013 mit dem neuen Standard zu arbeiten. „Freiwillig kann man auch ein Musterschüler sein und eher anfangen, den neuen Standard umzusetzen. Wer das tatsächlich macht, ist aber noch unklar“, erklärt Gohdes von Towers Watson.

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