Strategien
29. April 2020

Rallye oder Abgrund

Aktuell gibt es für institutionelle Portfolien zwei Gefahren: den möglichen baldigen Aufschwung zu verpassen einerseits, in ­eine Solvenzkrise hineinzuschlittern andererseits. Auf Sicht zu fahren und flexibel zu reagieren, kann ein Weg sein, mit der enormen ­Unsicherheit umzugehen. Dies mit langfristigem Investieren zu verbinden, ist jedoch eine Herausforderung.

Wohl kaum jemand hätte es vor Dezember 2019 gewagt, für ­Februar und März 2020 eine solche Entwicklung zu prognostizieren. Marktbeobachter waren deshalb schnell mit der Metapher des Schwarzen Schwans bei der Hand, der bewährten Beschreibung der globalen ­Finanzkrise. Doch schon der Urheber dieser Metapher, Nassim ­Nicholas Taleb, widerspricht in einem gemeinsamen ­Beitrag mit Mark Spitznagel: „Einige Leute behaupten, dass die Pandemie ein ‚Schwarzer Schwan‘ sei, also etwas Unerwartetes, nicht zu planen und somit entschuldbar. Das Buch, das sie häufig zitieren, ist Der Schwarze Schwan (von einem der Autoren, Taleb, Anmerkung der Redaktion). Hätten sie dieses Buch gelesen, hätten sie gewusst, dass eine solche globale Pandemie dort explizit als ­weißer Schwan dargestellt wird: etwas, das mit großer Sicherheit ­irgendwann ­einmal stattfinden würde.“ Die Autorin Michele Wucker fügt dem Metaphernzoo ein weiteres Tier hinzu: das graue Nashorn. Das graue Nashorn steht – quasi wie der Elefant im Raum, den ­niemand sehen will – vor uns und stampft mit seinen gewaltigen Beinen in den Boden, wütend in unsere Richtung blickend. „Dem grauen Nashorn Aufmerksamkeit zu schenken – das heißt, daran zu ­arbeiten, die Dinge, die wir vor uns sehen, abzuwehren – wäre eine weitaus bessere Nutzung unserer Zeit, als rückwirkend schwarze Schwäne zu erspähen“, polemisiert sie in der Washington Post.

Sie zitiert aus dem Gefahrenbericht des Department of National ­Intelligence aus dem nunmehr so fernen Jahr 2019: „Die Vereinigten Staaten und die Welt bleiben anfällig für die nächste Grippepandemie oder den großflächigen Ausbruch einer ansteckenden Krankheit, die zu massiven Todes- und Invaliditätsraten führen, die Weltwirtschaft stark beeinträchtigen, die internationalen Ressourcen belasten und die Rufe um Unterstützung durch die Vereinigten Staaten verstärken könnte.“ Auch in der Finanzwelt hätte es an Warnungen von Analysten vor den vielfältigen Gefahren nicht ­gemangelt: „Leveraged loans, Unternehmensverschuldung in ­Rekordhöhe, eine epische Aktienmarktblase, Aktienrückkäufe, die die Unternehmensbilanzen gefährden, sinkende Kapitalinvesti­tionen, schrumpfende Unternehmensgewinne, steigende Ungleich­heit, die die Realwirtschaft untergräbt, ein Handelskrieg, der nach hinten losging, gähnende Haushaltsdefizite, die durch kontraproduktive Steuersenkungen entstehen, und ein Führungsvakuum“, zählt sie die Sollbruchstellen der vergangenen Jahre auf, die nun ­alle zur gleichen Zeit drohen zu brechen. Auch wenn Covid-19 die wenigsten auf dem Schirm haben dürften, wird niemand sagen können, man hätte nicht ahnen können, dass es hier oder dort zu Problemen kommen könnte.

„Der Bericht 2020 des Weltwirtschaftsforums über globale Risiken zählt Infektionskrankheiten zu den zehn größten Risiken, denen wir im nächsten Jahrzehnt ausgesetzt sein werden, was ihre ­Auswirkungen betrifft; obwohl es fairerweise nicht zu den zehn größten Risiken gehört, die wir in den nächsten zehn Jahren zu ­erwarten haben. Haben wir also die Stimmen, die uns sagten, dass wir uns auf eine Pandemie genauso vorbereiten müssen wie auf ­einen Krieg, einen Terroranschlag oder eine nukleare Bedrohung, einfach nicht beachtet?“, fragt auch Fiona Reynolds, Chief ­Executive bei PRI. Überhaupt versuchen Initiativen, die sich bislang vor ­allem dem Ziel eines stärkeren Bewusstseins für Klima- und sonstige ESG-Risiken verschrieben haben, nun auch Beiträge zur Bewältigung der aktuellen Situation zu leisten – vielleicht weil sich die ­Risiken aufgrund ihres umfassenden, sektorübergreifenden ­Charakters ähneln. So stellte am 20. März die 2-Degrees-Investing-Initiative fest: „Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der ­Disruption könnten – auf der Grundlage unserer vorläufigen ­Modellierung – letztendlich die Größenordnung früherer Stresstests übersteigen. Der von der Bank of England für Klimarisiken ­beschriebene ‚Minsky-Moment‘ – eine Mischung aus wirtschaft­lichen Störungen, politischen Reaktionen und einem über Nacht eintretenden Stimmungsumschwung auf dem Markt – findet jetzt, at scale, für Covid-19 statt.“

Stimmungsumschwung

Der über Nacht eingetretene Stimmungsumschwung ist in der Tat atemberaubend. Vom vorläufigen Hochpunkt des Dax mit 13.789 Punkten am 19.02.2020 bis zum vorläufigen Tiefpunkt am 18.03.2020 mit 8.441 Punkten vergingen nur vier Wochen – jeder Tag, an dem Risikomanagementsysteme mit der Reaktion ­zögerten, vernichteten so aus individueller und kurzfristiger Sicht großen Wert. Doch nicht nur die Ausbreitung des Risikos, auch die ­Reaktion darauf ist atemberaubend: „Was dieses Mal ebenfalls ­anders ist, sind die bis dato nie gesehene Geschwindigkeit und das Format der geld- und finanzpolitischen Antwort auf die Krise“, so die Pimco-Strategen Joachim Fels und Andrew Balls im Konjunkturausblick April 2020. Begrifflich fassen lässt sich diese erhöhte Geschwindigkeit, mit der Risiken eintreten, mit dem Begriff Risk Velocity. Im Risikomanagement lässt sich dieses Konzept nutzen, um die üblichen zwei Dimensionen Eintrittswahrscheinlichkeit ­sowie Impact des Risikos zu ergänzen. Dass dies im aktuellen Fall eine gewaltige Rolle spielte, mussten Investoren leidvoll erfahren, die nur zögerlich ihre Risikopositionen auflösten.

Die Ursachen für die erhöhte Risk Velocity an Märkten ­untersuchte bereits im Herbst vergangenen Jahres ein Whitepaper von ­Principal Global Investors (PGI). Das Paper identifizierte ein Auseinanderdriften von Asset-Preisen und der zugrundeliegenden Ökonomie, die Gefahr von Downgrades im Bondmarkt, Tech Systemic Risk, Supply Chain Interdependence sowie neue Formen der politischen Kommunikation und soziale Medien als Hauptgründe für eine ­Zunahme der Geschwindigkeit. Mit Blick auf die aktuellen Marktentwicklungen sieht sich Autorin Seema Shah, Chief Strategist bei PGI, in einigen Punkten bestätigt, speziell was Vermögenspreise, Lieferketten und Social Media angeht. „Die Corona-Krise hat sehr individuelle Eigenschaften. Aber auch jeder andere Stimmungsumschwung hätte die Märkte aufgrund der hohen Bewertungen sehr schnell bewegt“, kommentiert sie. Lieferketten spielten ­zudem gerade zu Beginn der Krise, als das Virus geographisch sehr ­beschränkt verbreitet war, eine große Rolle. Für die kommenden Monate rückt nun ein weiterer der genannten strukturellen Trends in den Vordergrund: Der extrem große Überhang an BBB-gerateten Bonds und das enorme Risiko, welches bei Abstufungen ­entstünde. Viele Investoren und Bondstrategien wären in diesem Falle zu ­Notverkäufen gezwungen, was die Panik vergrößern würde. „BBB-Anleihen entsprechen rund dem 2,5-fachen des gesamten ­HY-Marktes“, so Shah. „Bei Abstufungen in signifikanten Größenordnungen hätte dieser enorme Probleme, das Volumen zu ­absorbieren.“ In der Konsequenz würden die Credit Spreads ­deutlich steigen und ein Szenario wie 2008 in der Tür stehen.

Investoren stehen so vor der schwierigen Aufgabe, sowohl ­vermehrt Hedges wie Staatsanleihen und Gold in ihr Portfolio zu integrieren, sich andererseits auf eine prompte Markterholung einzustellen. „Der Aufschwung wird sehr dynamisch. Wenn er kommt, wird es sehr schnell gehen.“ Es sei deshalb wichtig, Dry Powder bereit zu halten, um an diesem schnell partizipieren zu können. „Wenn Sie den Aufschwung mitnehmen wollen, müssen Sie bereit sein.“ Die Alternative ist die strukturelle Sichtweise eines langfristigen ­Investors. Bringt dieser einen Zeithorizont von drei bis fünf Jahren mit, so ließen sich die aktuellen Opportunitäten gut nutzen, auch wenn vielleicht einige Dämpfer hinzunehmen sind und die ­Talsohle womöglich nicht erreicht ist. „Was derzeit am Markt passiert, ist auf lange Sicht Noise“, so Shah gelassen.

Dauerhafter Verlust von Vermögenswerten

Noise wird die aktuelle Entwicklung jedoch nur in einem der ­beiden Hauptszenarien sein, auf die der niederländische Risikoanalyst Linksanalytics Pensionsfonds und Versicherungen vorbereitet: Dem ersten, optimistischeren Szenario nach gelingt die rasche ­Einhegung sowie global der geordnete Ausstieg aus den ­restriktiven gesundheitspolitischen Maßnahmen. Dem zweiten Szenario nach gelingt dies nicht und es kommt zu längeren, acht oder neun ­Monate oder sogar länger dauernden Lock-Down-Maßnahmen, bis ein Impfstoff gefunden wird. Die sich daraus ergebende Situation beschreibt Linksanalytics wie folgt: „Wenn sich der externe Schock des Virus verflüchtigt, wird es aufgrund des Nachholbedarfs eine rasche Erholung geben, so dass die Versuchung, nichts zu tun, ­besonders in Szenario A stark sein könnte. Das Ergebnis von ­Szenario B wäre jedoch radikal anders, da das tatsächliche Risiko hier in Konkursen besteht; es wird ein unmöglich großer Bedarf an Bailouts bestehen, und es ist unwahrscheinlich, dass die Regierungen die Fähigkeit oder den Wunsch haben werden, alle Eigenkapital­investoren und nicht die Unternehmen selbst zu retten: Die ­Produktionskapazität bleibt intakt, und Rettungsaktionen würden eine Umstrukturierung, zum Beispiel durch einen Schulden-/Eigenkapital-Swap, bedeuten, bei dem die derzeitigen Anteilseigner bis zum Äußersten verwässert werden“, warnt Linksanalytics. In diesem Fall werde es zu ­einem erheblichen und dauerhaften ­Verlust von Vermögenswerten kommen.

Aus Sicht von Linksanalytics ist es nicht notwendig, sich auf ein Szenario festzulegen. Szenario A als Grundannahme sei aktuell ­sicher, sofern die Risikobudgets das Ergebnis dieses Szenarios ­verkraften. Sollte das pessimistische Szenario sich bestätigen, dass die Ausbreitung des Virus nicht durch bis zu vier Zyklen mit drei- bis vierwöchigen Sperrzeiten gestoppt werden kann, sollten im ­April erste Anzeichen vorliegen. Dann jedoch ist eine schnelle ­Reaktion erforderlich. Der Rat von Linksanalytics: „Zu diesem ­Zeitpunkt wäre es Zeit für ­dringende Maßnahmen, und die Fonds werden keine Zeit haben, verschiedene Optionen zu prüfen und zu diskutieren. Der Not­fallplan sollte bereits alle relevanten Auslöser und Änderungen im Portfolio enthalten, die vorab genehmigt wurden und dem ­Investitionsmandat entsprechen.“ Geschwindigkeit löst hier also das Problem der extrem großen Unsicherheit ­bezüglich der ­Zukunftsprognose.

Fundamentale Unsicherheit ist überhaupt, was Investoren von ­allen Seiten entgegenschlägt. Diese Unsicherheit bezüglich der weiteren Entwicklung zeigt sich auch an den weit auseinanderklaffenden Analystenprognosen. Während Analysten von J.P. Morgan ­Anfang April mutmaßten, dass sinkende Fallzahlen in den USA ­einen Boden für den S&P 500 bei 2.100 Punkten bilden würden und Potenzial für eine Rallye auf 2.850 Punkte bestünde, übertraf der CIO von Guggenheim, Scott Minerd, die Befürchtungen von Goldman Sachs bezüglich eines möglichen weiteren Falls des S&P 500 auf 2.000 Punkte: Ein Rückgang bis auf 1.500 Punkte – 40 ­Prozent Verlust gegenüber den Werten von Anfang April – sei im Bereich des Möglichen, so Minerd.

Fundamentale Unsicherheit

Für diese Unsicherheit gibt es Gründe. Finanzmärkte und der ­Umgang mit Risiken beruhen auf der Zielsetzung, Risiken bemessen und zu bepreisen zu können. Doch die Annahme, dass Märkte bereits die aktuellen Prognosen der Epidemiologen eingepreist ­hätten, sodass nur noch Abweichungen davon zu Veränderungen führten, sei zu simpel, sagt der Nobelpreisträger Robert J. Shiller in einem Beitrag für die New York Times: „Die Welt hat noch nie ­zuvor ein solches Ereignis erlebt – eine neue Pandemie, die durch drakonische Stilllegungen ganzer Industrien und durch das ­Einsperren von Millionen von Menschen in ihre Häuser aggressiv eingedämmt wird. Die Werkzeuge der statistischen Analyse und des maschinellen Lernens, so mächtig sie auch sind, können nicht angemessen beurteilen, was die Welt erlebt. Es gibt keine Börsen­erfahrung, die völlig analog ist.“ Shiller nutzt dennoch im ­Anschluss eine historische Analogie, um zu demonstrieren, dass eine simple Beurteilung der Kursstände beispielsweise mittels des nach ihm benannten Shiller-KGV in der großen Depression in den Jahren nach 1929 zu enormen Problemen geführt hätte. Denn erst 1949 und damit 20 Jahre später überstiegen die amerikanischen Aktienmärkte – auf ­einer Total-Return-Basis wohlgemerkt – die Stände von 1929 dauerhaft.

Diese Unsicherheit liege auch in einem Versagen der herkömm­lichen statistischen Modelle aufgrund der fehlenden historischen Daten begründet, so Linksanalytics: „Die Ausbreitung der Covid-19-Krankheit testet weltweit die Grenzen der Nützlichkeit herkömm­licher statistischer Modelle zur Bildung von Erwartungen in Bezug auf die Finanzmärkte. Wenn das nächste Äquivalent zu diesem ­Virus die Spanische Grippeepidemie von 1918 ist, gibt es in der Tat nur sehr wenige oder gar keine relevanten Daten, an denen wir uns orientieren könnten.“ Nach Ifo-Schätzungen kostet jede ­zusätzliche Woche Stillstand in Deutschland zwischen 0,7 und 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Italien, Frankreich und Spanien liegen die Schätzung in vergleichbarer Höhe. Dies verdeutlicht, wie abhängig die europäische Wirtschaft von Fortschritten bei der Bekämpfung des Virus ist.

Ohne Präzedenzfall

So gibt es auch auf Seiten der Asset Manager Orientierungs­schwierigkeiten. „Dieses Mal ist alles anders“, schreiben Joachim Fels und Andrew Balls von Pimco. „Es gibt schlichtweg keinen ­Präzedenzfall und deshalb auch kein gutes Drehbuch für die ­Rezession, die sich gerade ausbreitet.“ Während Rezessionen ­üblicherweise durch das Wechselspiel aus schwerwiegenden ­ökonomischen und/oder finanziellen Ungleichgewichten ausgelöst werden, die sich während einer Wachstumsphase aufbauen, sei dieses Mal ein exogener Schock die Ursache: „die erste per Regierungsdekret verordnete Rezession – eine notwendige, zeitlich ­begrenzte Teilstilllegung des Wirtschaftslebens, die zum Ziel hat, eine noch größere humanitäre Krise zu verhindern.“ Fels und Balls von Pimco unterscheiden zwischen verschiedenen Szenarien, ­wobei sie dem Basisszenario, eine U-förmige Erholung der ­Konjunktur in den kommenden sechs bis zwölf Monaten, eine ­längere Stagnation oder eine Erholung mit anschließendem Rückfall gegenüberstellen. Um zu bewerten, auf welches Szenario wir uns zubewegen, seien vor allem zwei Faktoren zentral: zum einen die Form der Pandemiekurve, auf die wohl alle im Moment starren, sowie die Anzahl der Insolvenzen speziell von stark verschuldeten Unternehmen in zyklischen Branchen.

Auch andere Asset Manager blicken gebannt auf die mit den Infizierten­zahlen in Zusammenhang stehenden Lockdown-­Maßnahmen. „Die Hilfspakete der Regierungen und Notenbanken liegen mittlerweile in einer Größenordnung von 10 bis 15 Prozent des jährlichen BIP. Damit ist eine Shutdown-Periode von zwei bis drei Monaten abgedeckt“, analysiert Beat Thoma, CIO bei Fisch ­Asset Management. „Wenn sich eine Lockerung der Shutdowns schon früher ­abzeichnet, dann ist mit einer schnellen und kräftigen Erholung zu rechnen. Der Grund dafür sind die massiven ­Liquiditätsspritzen, die dem System in diesem positiven Szenario sehr viel Energie ­zuführen.“ So hätten die Aktienmärkten mit Stand Ende März zwei Monate Shutdown eingepreist. Jegliche Abweichung könnte zu Auf- und Abwärtsbewegungen führen. Aus der ­Situation erwächst eine sehr asymmetrische Struktur mit hohen Gewinnen und ­Verlusten auf beiden Seiten. Beispielsweise schreibt Robert Beer in seinem Marktkommentar vom April 2020: „Jetzt nur long only in Aktien oder ETFs zu investieren, bietet ­Chancen, birgt aber auch das volle Risiko. Nicht investiert zu sein, ist aber ebenfalls ein enormes ­Risiko.“ Auch Jean-Baptiste Berthon, Senior Strategist, Cross Asset Research bei Lyxor Asset Management, ­rechnet zwar mit einer U-förmigen Erholung. Doch: „Je länger die Pandemie ­anhält, desto wahrscheinlicher wird aus der aktuellen ­Liquiditätskrise eine ­Solvenzkrise“, fürchtet Jean-Baptiste Berthon. ­„Investoren sollten angesichts der asymmetrischen Risiko-Rendite-Struktur US-Aktien insgesamt neutral gewichten, dabei aber US-Qualitätsaktien, Titel des Basiskonsumgütersektors sowie des ­Finanzsektors übergewichten.“

Asymmetrische Situation

Investoren bleibt so nur eine extrem asymmetrische Situation, mit der sie sich irgendwie arrangieren müssen. Diese ergibt sich laut dem Risikomanager Quant Capital Management daraus, dass sich widerstreitende Kräfte in einem Kampf zwischen Real- und Geldwirtschaft entfalten. Auf der einen Seite stehen die Maßnahmen der Notenbanken sowie fiskalische Programme. Auf der anderen Seite gebe es eine „Krise, die in ihrer Breite ein enormes Ausmaß erreicht hat. Insbesondere der komplette Stillstand als Reaktion auf die Ausbreitung der Pandemie birgt ein nur schwer zu fassendes Risikopotenzial“, so Geschäftsführer Ivan Mlinaric. Kurzfristige Chancen und die berechtigte Hoffnung auf eine Rückkehr der ­Wirtschaft in eine gewisse Normalität innerhalb weniger Monate stehe dem Risiko langfristiger, massiver Schäden für die Realwirtschaft gegenüber. „Die Spannungen an den Kapitalmärkten, ­gemessen an der Volatilität, werden hoch bleiben“, schreibt ­Mlinaric. „Die Chancen, günstig in eine kommende Erholung zu investieren, steigen mit der Höhe der staatlichen Maßnahmen.“ Je länger die aktuelle Situation anhalte, desto höher stiegen asymmetrisch aber auch die Risiken. Ein dynamisches Risikomanagement sei erforderlich, so das Fazit des Risikomanagers. Auch hier löst Dynamik und Geschwindigkeit die Unsicherheit.

Plädoyer pro Langfristigkeit

Von dem Anspruch institutioneller Investoren, langfristig Kapital zu investieren und sich so einerseits unabhängig von Kapitalmarktschwankungen zu machen, andererseits als Anker für den ­Kapitalmarkt stabilisierend zu wirken, führt dies gleichwohl weg. Wohl auch aus diesem Grund mehren sich die Appelle, eine stark langfristige Investmentperspektive einzunehmen. „Long term ­investment wird nun mehr als jemals zuvor gebraucht“, so Hiro Mizuno, CIO des japanischen Pensionsgiganten GPIF Hiro ­Mizuno, gegenüber Top1000Funds.com. „Wir müssen cool bleiben und unserer Long-Term-Investment-Philosophie treu bleiben.“ Langfristiges Investieren ist auch die zentrale Botschaft eines ­gemeinsamen offenen Briefes, den GPIF zusammen mit weiteren großen internationalen Investoren wie Calstrs und USS Anfang März unterzeichnet und veröffentlicht hat und der einen starken Fokus auf ESG aus der Perspektive eines langfristigen Investors ­begründet. Der Bezug zur aktuellen Krise war noch nicht erkennbar, so Mizuno, aber durch Zufall zeitlich passend.

Einen langfristigen Blick, zusammen mit kollektivem Handeln von Investoren, mahnt auch Fiona Reynolds von PRI an, auch weil kurz­fristiges Handeln langfristig Wert vernichtet: „Am wichtigsten ist, dass die Eigentümer von Vermögenswerten auf die Interessen ­ihrer Nutznießer achten und die Auswirkungen der Krise sowohl auf ­individueller als auch auf systemischer Ebene verstehen müssen. Kurzfristige Entscheidungen in der gesamten Investitionskette ­tragen zur Volatilität und zur Wertvernichtung bei. In der ­Zwischenzeit verringern kollektive Maßnahmen des Finanz­sektors, die Verteilung der Last und Investoren, die eine solide Regierungspolitik unterstützen, die Gesamtauswirkungen – eine weitere ­Lektion aus der letzten Krise.“ In der aktuellen Situation, die nicht wenige Beobachter als existentielle Krise, bei der es um „alles“ geht (wobei variiert, was denn nun „alles“ genau ist), wahrnehmen, ­dürfte dies besonders deutlich werden. Gelingt es nicht, eine ­mehrjährige globale Depression zu verhindern, so dürften sehr wahrscheinlich auch kurzfristige Gewinne bis zur Erholung mehr als verzehrt sein.

In einer neuen Welt

Doch langfristig zu investieren ist leichter gesagt als getan, wenn eine große Unsicherheit bezüglich des künftigen Pfades besteht und die Risiken enorm sind: Das Risiko, eine mögliche konjunkturelle Erholung zu verpassen und somit die im Februar und März eingefahrenen Verluste zu fixieren. Und das Risiko, in einen ­Abwärtsstrudel aus Insolvenzen zu geraten, bei dem 2008 als ­Kinderspiel anmutet. Zumal sich auch für langfristige Investoren zahlreiche Implikationen aus der aktuellen Situation ergeben: „Der Ausbruch (des Virus) hat nicht nur die Finanzmärkte und das kurzfristige Wachstum unter Druck gesetzt. Er hat eine Neubewertung vieler Annahmen zur Weltwirtschaft bewirkt“, so Blackrock-CEO Larry Fink in seinem Brief an die Aktionäre. „Wenn wir diese Krise überstanden habe, wird die Welt eine andere sein. Die Psychologie der Anleger wird sich verändern. Das Geschäftsleben wird sich verändern. Der Konsum wird sich verändern.“

In dieser Situation, so scheint es, werden viele Anleger nur möglichst flexibel auf Sicht fahren können. Weit vorausblickend richtig steuern und lenken – so schmerzlich dies für manche sein mag – werden für das Erste allenfalls die Zentralbanken sowie ­Regierungen können, welche mit fiskalischen Programmen zur Eindämmung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie beitragen wollen. Die Analyse der Folgen dieser Verschuldungsprogramme wird für ­Investoren dann die nächste Herausforderung sein.

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