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24. Februar 2023

Risikomanagement im Stresstest

Für Risikomanagement war das vergangene Jahr ein echter Prüfstein. Als sehr nützlich erwiesen sich Optionen, ein nicht voll abgestimmtes ALM und eine hohe Solvenz. Immer relevanter wird das Liquiditätsrisiko. Nachhaltige Anlagestrategien konnten sich in 2022 nicht als Hilfe für das Risikomanagement erweisen. Ein Kuriosum: Trotz der widrigen Märkte stehen Versicherungen und Pensionseinrichtungen nun besser da.

Aus unruhigem Schlaf erwacht, ließ der Pharao nach Josef rufen, um seinen Traum zu deuten, in dem sieben magere Kühe sieben fette Kühe gefressen haben. Josef riet seinem Vorgesetzten, in den sieben guten Jahren Getreide für schlechte sieben Jahre zu bunkern. Dies war für den philosophierenden Wirtschaftshistoriker Tomas Sedlacek die Mutter aller Risikobudgetierungen und die Geburt des Risikomanagements – das damals noch ohne Zinszusatzreserve, Solvency Capital Ratio oder Monte-Carlo-Simulationen auskam. „Man sollte ein wenig ansparen, um für schlechte Jahre gerüstet zu sein. Die Ägypter hatten diese Regel auch ohne ökonometrische Modelle oder 1.000 Ökonomen“, sagte Sedlacek vor geraumer Zeit zu portfolio institutionell. Interessanter Randaspekt: Josef riet nicht zur Diversifikation in Honig, Datteln oder Wein. Der Leiter Traumdeutung im Pharaonenreich wusste wohl schon damals, dass Diversifizierung dann nicht funktioniert, wenn man sie braucht.

Daran werden in der Neuzeit Investoren immer wieder erinnert – auch wieder im vergangenen Jahr, als beispielsweise der Bloomberg Global Aggregate Corporate Bond Index 16 und der Stoxx Europe 600 13 Prozent verloren. „2022 war ein besonderes Jahr durch den Gleichlauf von Aktien und Renten. Der sichere Hafen hat nicht funktioniert. Völlig außergewöhnlich ist dies aber nicht, wie man aus anderen Marktphasen, wie zum Beispiel innerhalb des ‚Corona-Quartals‘ Q1 2020 weiß“, kommentiert Jörg Steffens, Bereichsleitung Kapitalanlagen der Öffentlichen Versicherung Braunschweig. Nur halb im Scherz erinnert Dr. Andreas Billmeyer daran, dass 2022 „die neue Erkenntnis brachte, dass Zinsen auch steigen können“. Der Leiter Risikomanagement der Lebensversicherung von 1871 (LV 1871) ergänzt: „Zumindest war man sich nicht bewusst, in welchem Tempo und Ausmaß ein Zinsanstieg möglich ist. Eine weitere Erkenntnis im vergangenen Jahr war, dass auch Liquidität für einen Lebensversicherer eine verstärkte Rolle spielen kann.“

Stille Reserven auf dem ALM-Altar geopfert

2022 war aber noch aus anderen Gründen bemerkenswert. Wohl nie in der Geschichte haben Lebensversicherer und Pensionskassen so entspannt einen zweistelligen Rückgang von Anleihen und Aktien quittiert. Grund ist das Asset Liability Management. Wie Mercer zu den Pensionsplänen im Dax-40 informiert, schrumpfte zwar der Zeitwert des Pensionsvermögen gegenüber 2021 um etwa 60 auf etwa 240 Milliarden Euro. Auf der anderen Seite der Bilanz ist allerdings durch den enormen Zinsanstieg im Jahr 2022 der bilanzielle Wert der Pensionsverpflichtungen nach IFRS ebenfalls deutlich abgesackt: um etwa 120 auf etwa 290 Milliarden Euro. Damit stieg gemäß der Mercer-Schätzungen der Deckungsgrad der Pensionsverpflichtungen auf einen neuen Höchststand von über 80 Prozent an. Bei Lebensversicherungen sorgte der Zinsanstieg für Verluste bei den stillen Reserven und – weil Solvency II hohe ALM-Grade goutiert – für verbesserte Solvency Capital Ratios.

Für Kapitalanleger stellt sich aber die Frage, ob höhere SCR-Ratios die hohen Asset-Verluste wert waren. Hätte man nicht lieber die stillen Reserven sichern müssen? „Nein“, sagt Jörg Steffens. „Wir sind eine Versicherung. Die Hauptaufgabe ist es, auch in 40 Jahren die Liabilities noch bedienen zu können. Darum sind ALM-Überlegungen auch weiterhin sehr wichtig.“ Steffens kann zudem noch anführen, dass bei der Öffentlichen trotz hoher Duration auf der Aktivseite Assets und Liabilities nicht vollständig gematcht waren, so dass sich die Passiv-Seite stärker als die Asset-Seite reduzierte. „Der Zinsanstieg ist daher ökonomisch grundsätzlich positiv.“

Als positiv erwies sich im vergangenen Jahr aber auch ein gutes Risikomanagement. Dieses musste sich mehrmals beweisen. Erst ging es bei Aktien im Februar kriegsbedingt steil bergab, dann folgte ein eher volatiler Sägezahnmarkt – der V-Dax legte um 16 Prozent zu – und ab dem vierten Quartal brauchte es möglichst viel Risikobudget, um den Hausse-Zug zu erwischen. Risikomanagement musste sich aber nicht nur beweisen, sondern war auch mehr gesucht, weil sich auch der Fokus der Zentralbanken geändert hat. „‚Whatever it takes‘ bezieht sich nun auf den Kampf gegen die Inflation. Anleger können nicht mehr darauf vertrauen, dass die Zentralbanken die Märkte stützen. Der Fed Put ist Vergangenheit“, erklärt Thomas Bossert, der bei Union Investment Institutional das Portfoliomanagement verantwortet. „Darum sind nun Wertsicherungskonzepte wieder mehr gefragt.“

Der sichere Hafen meldete Land unter

Schon vor 20 Jahren forschten die Professoren Lutz Johanning und Bernd Rudolph zu den Themen Risiko- und Verlustaversion. Ist erstere hoch – man denke an Versicherungen oder Pensionskassen –, mündet dies in eine hohe Rentenquote mit wenig Durations- und Bonitätsrisiko. Damals begannen diese Anleger jedoch, da es auch ein Renditeerfordernis gibt, immer mehr Credit-Risiko beizumischen sowie die Duration zu verlängern. Mit den gestiegenen Zinsen kam nun das Durationsrisiko zum Tragen. „2022 hat daran erinnert, dass risikoarm nicht das Gleiche ist wie risikolos. Bonitätsstarke Bonds sind eben nur dann der sichere Hafen, wenn sie kein Durationsrisiko haben“, so Bossert, der hinzufügt, dass es sich nur um vorübergehende Wertminderungen handelt, da keine Credit-Risiken auftraten. Eine gewisse Geduld ist nun insbesondere bei bestimmten Emissionen gefragt. Bossert: „Ich bin mir sicher, dass man in etwa 95 Jahren auch die von Österreich begebenen Ultralangläufer wieder zurückbekommt.“

Anleger, die unter einer hohen Verlustaversion „leiden“, sind auf hohe Wertuntergrenzen und CPPIs angewiesen. Das Manko der Constant Proportion Portfolio Insurance ist, ausgestoppt zu werden und dann in einer sich anschließenden Marktaufwärtsbewegung nur noch zuschauen zu können – wie im Corona-Jahr 2020 oder im Kriegsjahr 2022. „In diesen Marktphasen hätte man entweder frühzeitig rausgehen müssen, um ein Restrisikobudget zu behalten, oder Put-Optionen einsetzen müssen“, so Bossert. „Wir waren vergangenen Oktober noch im Spiel und haben die Budgets dann für Corporate Bonds freigegeben. Drei Prozent für gute Anleihen zu bekommen, war für die Kunden eben ein gutes Argument für diese Asset-Klasse.“ Für bilanzsensitive Investoren erscheint es auch wenig sinnvoll, wenige Wochen vor dem Bilanzstichtag Aktienrisiken aufzubauen.

Optionen waren 2022 auch für Finccam sehr von Nutzen. „Risikobudgetierungen sind nur ideal, wenn man das Risikobudget nicht braucht. Hätten wir im vergangenen Jahr zum Management der Risikobudgets nur Futures zur Verfügung gehabt, wären wir vermutlich in den meisten Mandaten ausgestoppt worden. Die Optionen haben uns als Grundabsicherung geholfen, die Risikobudgets wirklich zu sichern“, blickt Dr. Wolfgang Mader, Mitgründer des in München ansässigen Risiko-Overlay-Spezialisten Finccam, zurück. „Ein ideales Umfeld für Optionsansätze bot vor allem das erste Quartal 2020. Damals konnten unsere Kunden ihr Aktien-Exposure zu großen Teilen durchhalten.“ Mader betont aber, dass man versuche, für alle Szenarien gerüstet zu sein, und darum unterschiedliche Absicherungselemente kombiniere. Denn: „Kein Crash ist wie der andere.“ Der Nachteil von Optionen sindderen laufende Kosten. Ein Beitrag zur Kostensenkung seitens Finccam ist, dass die Optionen vornehmlich der Absicherung von Extremrisiken dienen. Zur Abschätzung dieser Tail-Risiken arbeitet Finccam mit dem Conditional Value at Risk auf Basis von Simulationen und mit einigen wenigen historischen Extremereignissen wie Q4 2018 oder Q1 2020. Ein Beitrag zur Kostenkontrolle seitens der Finccam-Kunden ist, dass diese Zielkostenvorgaben machen. Mader erklärt: „Wir dürfen in diesen Mandaten beispielsweise ein oder 1,5 Prozent des Portfoliowerts für Derivate ausgeben. Im derzeitigen Umfeld mit eher mäßiger Volatilität bekommen wir für diese Zielkosten attraktive Absicherungsniveaus.“

In Risikobudgets denken auch Versicherer. Zumindest bei der LV 1871 werden diese mit einer gewissen Entscheidungsfreiheit gemanagt. Es brauche zwar gewisse Prozesse und Methoden, so Billmeyer. „Die schlussendliche Entscheidung sollte aber der Mensch treffen. Wenn man die Chance hat, antizyklisch zu agieren, sollte man diese auch nutzen können.“ Die antizyklische Anlage habe im Corona-Quartal 2020 sehr gut geklappt. „Die Kaufgelegenheit, gerade für Corporate Bonds, schien uns damals sehr deutlich. Im letzten Quartal des vergangenen Jahres war für uns die Opportunität dagegen weniger zwingend.“

Dr. Andreas Billmeyer, LV 1871: Für das Risikomanagement braucht es Methoden und Prozesse – aber auch eine gewisse Entscheidungsfreiheit.

Nach vorne geblickt, bieten sich für Anleger nun neue Perspektiven. „Wer Renditeanforderungen von drei bis vier Prozent hat, kann jetzt seine Corporate-Bond-Quoten wieder hochfahren“, so Mader. Auch wegen der verbesserten ALMs sind bei Anleihen wieder kürzere Laufzeiten ausreichend. „Die Ausgangssituation hat sich verbessert. Anleger können auf der Risikoleiter wieder einige Sprossen runtersteigen“, erklärt Unions Bossert. Und Wertsicherungskonzepte können höhere Floors einziehen. „Für das gleiche Renditeziel müssen die Kunden nun weniger ins Risiko gehen.“

Um die Renditeziele zu erreichen, wurden schon seit einigen Jahren illiquide alternative Anlagen zu einem immer wichtigeren Renditebaustein. Je höher deren Anteil, desto größer wird ein noch relativ neues Risiko in institutionellen deutschen Portfolios: die Liquidität. „Besonders im Fall von Overcommitments ist eine Cashflow-Planung wichtig. Man muss als Anleger vermeiden, unter Verkaufsdruck zu kommen“, warnt Mader. „Liquide Risikoprämien liefern hier eine Alternative.“ Thomas Bossert von der Union sagt: „Mit alternativen Anlagen allokiert man mehr Risiko auf dem Faktor Liquidität. Darum ist das Gesamtportfolio so zu strukturieren, dass man aus dem alternativen Portfolio nicht raus muss. Das spricht für Aktien.“ Um aber zu vermeiden, dass in besonders schwierigen Marktphasen erst die Aktien und dann doch die Alternatives abgebaut werden müssen, brauche es Aktien mit Absicherung. Braucht es aber auch die oft gedanklich als Bond-Proxys eingeordneten Alternatives, wenn Anleihen eigentlich auskömmliche drei Prozent abwerfen? Die Antwort liegt für Bossert in den Ambitionen des Investors: „Wer beispielsweise einen höheren Ausfinanzierungsgrad will oder im Wettbewerb steht, braucht noch andere Assets als nur Anleihen.“

Immer liquide bleiben

Vertraut mit den Risiken illiquider Assets sind oft vermögende Private. „Für unsere Kunden machen wir eine SAA mit zehn-Jahres-Horizont und Stresstests, die sich an der Länge früherer Krisen orientieren. Aktuell sind das wenige Monate bis zwei Jahre“, erklärt Jochen Butz, Geschäftsführer HQ Trust. „Bei den Stresstests prüfen wir – unter der Annahme, dass sich keine Ausschüttungen ergeben – ob die Liquidität ausreicht, um Commitments, Entnahmen und Kosten zu bestreiten.“

Achtung: Stornos, Alternatives, Mangel an Einmalbeiträgen

Die Notwendigkeit, Liquiditätsmanagement zu betreiben, ist auch der Bafin bewusst. Sie hält ihre Schützlinge an, die Liquidität bezüglich großer Stornowellen zu stressen. Was neben gewachsenen Alternatives-Quoten als Effekt nun hinzugekommen ist, dass Lebensversicherer für die Zinszusatzreserve keine Abgangsgewinne mehr erzielen müssen, wobei automatisch Liquidität geschaffen würde. Bei dem einen oder anderen Versicherer spielt auch das Einmalbeitragsgeschäft eine wichtige Rolle, und dieses hat sich 2022 auf ein Normalmaß zurück entwickelt. Im Gespräch mit Andreas Billmeyer kommen aber gleich mehrere Argumente auf, warum Liquidität zwar ein Thema, aber kein Grund zur Sorge ist – nicht nur wegen bislang ausgebliebenem Massenstorno. Zwar gelte es wegen der Unberechenbarkeit der Zahlungsströme bei Alternatives und Kunden immer die Augen offen zu halten und sich intensiver zwischen Aktuaren und Kapitalanlegern auszutauschen.

Der Risikomanager sagt aber auch, dass man anders als im früheren negativen Zinsumfeld nun nicht mehr unbedingt gezwungen sei, jeden Euro anzulegen. Wobei andererseits die Opportunitätskosten von Cash teilweise größer sind. Weiter besteht aufgrund der längeren Laufzeiten der Passiva laufend Neuanlagebedarf. „Ich halte einen Durations-Match von rund zwei Dritteln für sinnvoll“, so Billmeyer. Im vergangenen Jahr kam hinzu, dass manche Wertuntergrenzen gezogen haben und die LV 1871 sich entschied, Aktien etwas abzubauen. Außerdem ist dem SFCR-Bericht 2021 der Lebensversicherung zu entnehmen, dass sich Ende 2021 die Solvenzquote ohne Nutzung von Hilfs- und Übergangsmaßnahmen nicht nur auf üppige 410 Prozent belief, sondern der Versicherer zudem noch darauf verzichtete, einen möglichen Verkauf von Immobilien und Aktien bei ungünstiger Ergebnissituation zu modellieren. „Wir halten jedoch das Signal für wichtig, auch dauerhaft in substanziellem Umfang an renditeorientierten Anlageklassen festzuhalten“, so die Versicherung.

Bei der Öffentlichen Lebensversicherung beliefen sich Ende 2021 die anrechenbaren Eigenmittel im Verhältnis zum Solvency Capital Requirement sogar auf 446 Prozent. „Wir konnten in der Vergangenheit viele Reserven und damit Risikotragfähigkeiten aufbauen“, berichtet Steffens. Dies ermöglichte es den Braunschweigern in der Lebensversicherung ihre Assets hälftig in ein Sicherheits- und ein Ertragsportfolio, welches über einen Masterfonds auch Asset-Klassen wie Private Equity, Infrastruktur und Immobilien enthält, aufzuteilen. Das Sicherheitsportfolio setzt sich aus Govys, Supras, Länderanleihen und Covered Bonds sehr hoher Bonitäten zusammen, die bis zu Fälligkeit gehalten werden. „Auf Grundlage eigener Portfoliooptimierungen setzen wir aktuell eine 50:50-Zielallokation um.“ Bei diesen SAA-Optimierungen werden jährlich 100 mögliche Portfolios berechnet, wobei man für das eine Ende das Minimum-Varianz- und für das andere Ende das Maximum-Return-Portfolio erstellt. „Meist wählen wir dann ein Portfolio aus, das zwischen Nummer 40 und 60 liegt“, sagt Steffens. Das gewählte Portfolio hänge unter anderem von den Risikotragfähigkeiten, den Ertragserfordernissen und der Risikoaffinität des Vorstandes ab.

Öffentliche steuert mehrdimensional und risikoadjustiert

Zusätzlich zur Strategie arbeitet die Versicherung mit einer risikoadjustierten Portfoliosteuerung und dazugehörigen Bandbreiten (Ampelsystematik). Diese leiten sich, wie Steffens erläutert, ebenfalls aus der Risikotragfähigkeit, der Risikobereitschaft des Vorstands und den SII-Rahmenbedingungen ab. „Sofern uns diese Rahmenbedingungen grünes Licht anzeigen, versuchen wir an der Zielallokation konsequent festzuhalten und schichten bei marktinduzierten Veränderungen wieder dahingehend um, das heißt, wir rebasieren die Allokation. Von unserer Investmentphilosophie her sind wir also prognoseunabhängig.“ Bei der Sachversicherung der Öffentlichen kommt das Ertragsportfolio aufgrund hoher Risikotragfähigkeiten sogar auf eine Quote von 70 Prozent.

Steffens Ausführungen lässt sich entnehmen, dass Solvency II damit nicht die alleinige Orientierungsgröße ist. Eine sehr hohe Bedeutung für die Steuerung der Kapitalanlagen hat die mehrdimensionale risikoadjustierte Portfoliosteuerung, bei der in unterschiedlichen Dimensionen (bilanziell und ALM) Risiken und Risikotragfähigkeiten gegenübergestellt werden. Als Risikokennzahl wird der Value at Risk genutzt. Ermittelt wird dieser für drei Monate über eine Kovarianzmatrix und historische Zeitreihen. Den dem Value-at-Risk-Konzept grundsätzlich innewohnenden Schwächen begegnen die Niedersachsen mit Expected-Shortfall-Berechnungen und Backtestings. „Je mehr Asset-Klassen, desto besser funktioniert die Normalverteilungsannahme“, so die Erfahrung von Steffens. Der Risikosteuerungsansatz passe damit sehr gut zu der aus der Kapitalanlagestrategie resultierenden Zielsetzung einer sehr hohen Diversifikation. Diesen Erfahrungsschatz konnte die öffentlich-rechtliche Versicherung anders als für Solvency II bereits seit zwei Dekaden nähren. Steffens: „So gehen wir bereits seit 2003 vor und konnten darum ein gutes Gefühl für die Risikozahlen entwickeln.“

Nachhaltigkeit als Risikomanagement

Wie zu erkennen ist, hat sich Risikomanagement immer wieder weiterentwickelt. Teil dieser Evolution ist, trotz des vergangenen Jahres, dass für viele Kapitalmarktteilnehmer nachhaltige Anlagestrategien ebenfalls ein Risikomanagement sind. Ebenfalls trotz beziehungsweise gerade wegen 2022 vertraut aber die LV 1871 jedenfalls zur Risikobegrenzung mehr auf Diversifikation als auf Nachhaltigkeit. „Wir wollen in jedem Fall Klumpenrisiken vermeiden, etwa aus besonderen Branchen, Ländern oder gar Einzeltiteln. Der Nachweis, dass ESG-konforme Strategien dauerhaft eine geringere Eigenkapital-Unterlegung rechtfertigen würden, steht noch aus“, erklärt Andreas Billmeyer.

Bei der Öffentlichen schließt das eine das andere nicht aus. „Wir wollen breit diversifizierte Indizes. 2018 haben wir mit der Nachhaltigkeitsstrategie begonnen und sind beispielsweise bei den Aktien vom MSCI World auf den MSCI ESG Leaders Index gewechselt. Selbst können wir nicht die Nachhaltigkeit von mehreren tausend Unternehmen bewerten, daher nutzen wir zu unserer Nachhaltigkeitsstrategie passende Indices, Ansätze und ESG-Ratings etablierter Anbieter“, so Steffens. Für das alternative Universum wird bei Neuzeichnungen „Artikel-8“ vorausgesetzt und darauf geachtet, welche ESG-Richtlinien und -Initiativen die Partner unterschrieben haben beziehungsweise welche Nachhaltigkeitsvorgaben im Investmentprozess verankert sind.

Im klassischen Risikomanagement ESG zu etablieren, ist eine schwierige Übung, wie Wolfgang Mader vom Risikospezialisten Finccam erklärt: „Risikomanagement ist kurzfristiger ausgerichtet und die entsprechenden Marktfaktoren dominieren so stark, dass Nachhaltigkeit für kurzfristige Bewegungen wenig Erklärungskraft hat. Langfristig haben Ökologie, Soziales und Governance jedoch mit Sicherheit eine große Performance-Bedeutung.“ Andererseits: Die Verkaufswelle, die einsetzt, wenn eine ESG-Rating-Agentur plötzlich eine rote Flagge hisst, ist enorm. „Das ist wie eine Gewinnwarnung. Ein Unternehmen, das negativ auffällt, wird sofort abgestraft“, sagt Thomas Bossert.

Vom alten Testament über Value-at-Risk-Berechnungen bis Solvency II war es ein weiter Weg, den der Pharao mit etwas Neid verfolgen mag: Seine Risikobudgetierung minimierte das Default Risk seines Reiches nur über einen Zeitraum von 14 Jahren. Solvency II geht dagegen bei einer SCR-Ratio von 100 Prozent von 200 Jahren aus. Andererseits: Beim Pharao und Josef hat das Risikomanagement funktioniert, bei Lebensversicherungen und Solvency II steht der Proof of Concept noch aus.

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