Strategien
27. April 2021

Unmut ob der Lücke

Die Datenlage rund um das Thema Nachhaltigkeit treibt ­Investoren und Asset Manager um wie nie zuvor. Haupttreiber ist neben den zunehmenden Selbstverpflichtungen der Investoren zur CO₂-Neutralität vor allem die verstärkte Regulierung durch die EU-­Offenlegungsverordnung und die Taxonomie.

Die Unternehmen der Realwirtschaft berichten ESG-Daten meist in Form von CSR-­Berichten. Doch wie lückenhaft sind diese Daten und wo müssen ESG-Rating-Anbieter und schlussendlich Investoren auf modellierte Daten zurückgreifen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen? Ohne Schätzungen geht es meist nicht.

ESG-Rating-Agenturen stehen zunehmend in der Kritik. Ihre ­Bewertungen unterschieden sich zu stark, teilweise bekämen nach dem Best-in-Class-Ansatz die „besten“ Firmen einer ­„schmutzigen“ Branche gute ESG-Zeugnisse ausgestellt, wie zum Beispiel Tabakunternehmen. Vor allem für Unruhe sorgt aber, dass viele Daten, die eigentlich notwendig wären, um die Auswirkungen von ­Unternehmens- und letztlich Anlageentscheidungen auf den ­Klimawandel, die Biodiversität, die Menschen- und Arbeitsrechte in den Lieferketten multinationaler Konzerne und die Folgen für die Gesundheit von Mensch und Tier zu messen, nicht ­beziehungsweise nur unzureichend vorhanden sind.

Beispiel Offenlegungsverordnung: Die EU-Verordnung über ­Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor definiert die Informationspflichten, die Banken, Versicherungen, Pensionskassen und Fondsgesellschaften bezüglich nachhaltiger ­Investments und Nachhaltigkeitsrisiken gegenüber der ­Öffentlichkeit haben. Seit dem 10. März dieses Jahres ist ihre ­Anwendung Pflicht. Finanzmarktteilnehmer müssen demnach auf ihren Internetseiten darüber informieren, welche Strategien zur Einbeziehung von Nachhaltigkeitsrisiken sie bei ihren ­Investitionsentscheidungsprozessen (Artikel 3) verfolgen und ­welche nachteiligen Auswirkungen ihre Investitionsentscheidungen­ auf Nachhaltigkeitsfaktoren (Artikel 4) haben. Ebensolche ­Informationen müssen sie auch in die vorvertraglichen ­Informationen aufnehmen. Unternehmen, die weniger als 500 Mitarbeiter haben, worunter in Deutschland die Pensionskassen fallen, haben die Möglichkeit, gemäß einer Comply-or-Explain-­Regelung zunächst auf die Nennung der nachteiligen ­Auswirkungen zu verzichten. Wie portfolio institutionell zuletzt berichtete ­(Ausgabe Januar 2021: „Ruhe vor dem Sturm“, Seite 18ff), wird der politische und gesellschaftliche Druck bei den meisten ­Institutionen jedoch auf eine Veröffentlichung dieser Daten hinwirken.

Die Principal Adverse Impact Indicators

Da die Technischen Regulierungsstandards (RTS) der Level-II-­Gesetzgebung aber noch nicht verabschiedet sind, gilt eine Art Schonfrist bis zum 1. Januar 2022. Seit Anfang Februar liegt ein neuer Entwurf der RTS zur Offenlegungsverordnung vor. ­Nachdem es im vergangenen Jahr nach der Veröffentlichung des ersten ­Entwurfs erhebliche Kritik von Seiten der Verbände der ­Finanzwirtschaft gegeben hatte, wurden die Anforderungen an die institutionellen Investoren etwas abgespeckt. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hatte damals ­kritisiert, dass alleine zur Messung der nachteiligen Auswirkungen von Investitionsentscheidungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren die Behörden 32 verpflichtende Indikatoren, so genannte Principal ­Adverse Impact (PAI) Indicators aufgestellt hatten, sowohl für die Bereiche CO₂-Emissionen und Umweltschutz als auch für die ­Bereiche Soziales, Arbeits- und Menschenrechte sowie für ­Maßnahmen zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung. „Die Versicherer hätten demnach für jedes Einzelinvestment durchdeklinieren müssen, inwiefern dieses nach den 32 geplanten Indikatoren nachteilige Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren hat. Das wäre ein unglaublicher Aufwand gewesen“, sagte Tim Ockenga, Leiter der Abteilung Kapitalanlagen beim GDV, im ­Januar im Gespräch mit portfolio institutionell. In ihrem neuen Entwurf haben die EU-Regulierungsbehörden Esma, Eba und Eiopa nun die Zahl der verpflichtenden Principal Adverse Impact Indicators (PAIs) ­„wesentlich reduziert und an die Asset-Klassen Aktien, ­Corporate Bonds et cetera mit 14 Pflichtindikatoren, Staatsanleihen mit zwei Pflichtindikatoren sowie Immobilieninvestitionen mit ebenfalls zwei Pflichtindikatoren angepasst. Hinzu kommen noch zwei ­weitere Indikatoren, die aus den freiwilligen Indikatoren ­ausgewählt werden müssen. Dies ist aus Sicht der Versicherungswirtschaft ein Schritt in die richtige Richtung. Die Zahl der PAIs ist allerdings ­immer noch hoch“, konstatiert der GDV.

Templates für ESG

Die Schwierigkeit bei der Anwendung der entsprechenden ­Indikatoren liegt hierbei in der Breite der Kapitalanlage vieler ­Versicherer. Der GDV teilt auf Nachfrage mit: „Portfolios mit ­mehreren tausend verschiedenen Assets sind keine Seltenheit. Die Bandbreite der Investitionen reicht vom weltweit operierenden Großunternehmen bis hin zum kleinen oder mittleren regional ­tätigen Unternehmen. Selbstverständlich werden die Unternehmen­ versuchen, die Daten zu erhalten. Aber zu verlangen, dass die ­Unternehmen eigene Schätzungen zu den Indikatoren ­vornehmen, wenn ihre Investitionsobjekte diese nicht selbst ermitteln und ­veröffentlichen, ist nicht zielführend. Aussagekräftige Daten ­kommen so nicht zustande.“ Daher spreche sich die Versicherungs­wirtschaft für eine Internationalisierung der europäischen ­Nachhaltigkeitsstandards aus, um den weltweiten Investitionsmöglichkeiten angemessen Rechnung zu tragen, so der GDV.

Die Versicherungsbranche ist mit dieser Forderung nicht allein. Auch mancher Asset Manager, der auf dem Feld der Nachhaltigkeit ackert, spielt mit der Idee einer internationalen Norm, ähnlich der des Pariser Abkommens für die Klimaziele. So auch Ossiam, eine Tochter von Natixis Investment Managers, die zu Beginn dieses Jahres ihren ersten Biodiversitäts-ETF aufgelegt hat. „Die Portfolio­unternehmen wissen sehr viel mehr als wir über ihre ESG-Bilanz, aber solange sie nicht rechtlich verpflichtet sind, diese offenzulegen, hinken wir hinterher. Eine Regulierung auf globaler Ebene, ähnlich dem Pariser Abkommen könnte dagegen ein echter Game Changer werden“, sagt Carmine de Franco, Head of Research bei Ossiam. Nur ist ein solches Vorhaben längst nicht in Sichtweite. Demgegenüber stünden europäische Investoren und Asset ­Manager, die ihren Sitz in Europa haben und für europäische ­Kunden operierten, vielfach vor einem Problem, wenn sie Anlagen in Schwellenländern managen. „Für europäische Fondsmanager, die Emerging Market Debt Funds für europäische Kunden ­managen, wird die Reporting-Situation extrem herausfordernd“, weiß Andrea van Dijk, Executive Director of Client Relations bei der ESG-Rating-Agentur Sustainalytics. Die ESG-Datenlage sei in den Emerging Markets – gerade im Anleihenbereich – noch sehr „zersplittert und weit entfernt von der Art von Offenlegungen, wie die europäischen Regulierungsbehörden sie fordern.“

„Die Lücke wird noch länger ein Loch sein“, fürchtet auch Dr. ­Cornelia Schmid von der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche ­Altersversorgung (Aba). Dabei bezieht sie sich auf die geplante ­Initiative der EU-Kommission, einen European Single Access Point (Esap), also eine zentrale Informationsplattform aufzubauen, die unter anderem ESG-Daten von Unternehmen sammeln und diese unter anderem ­Investoren zur Verfügung stellen soll. „Wir begrüßen­ zwar diese Initiative, aber die Zusammenführung ­vorhandener ­Daten löst aus unserer Sicht nicht das Grundproblem. Und auch die Überarbeitung der CSR-Richtlinie wird noch Zeit in Anspruch nehmen“, so Schmid. Bis diese EU-Richtlinie, die die nichtfinanziellen Berichtspflichten von Unternehmen in der EU festlegt, im Amtsblatt veröffentlicht und in nationales Recht ­überführt ist, könnten noch Jahre vergehen, fürchtet die Betriebsrentenexpertin, die bei der Aba unter anderem die Fachvereinigungen Pensionskasse und ­Pensionsfonds betreut. Zudem hoffe man, dass der Esap nicht zu ­weiteren Anforderungen für die Einrichtungen betrieblicher Altersvorsorge­ führt: „Die im Frühjahr von der EU-Kommission durchgeführte Konsultation zum Esap spricht ­dafür, dass in Brüssel noch nicht klar ist, welche Daten und von wem im Esap überhaupt zusammengeführt werden sollen. Wir finden es wichtig, dass der Esap kein Mega-Mammut-Projekt der EU wird und sehen uns ganz klar auf der Nutzerseite“, so Schmid.

Einen Legislativ­vorschlag für den Esap hat die EU-Kommission im EU-Aktionsplan Kapitalmarktunion für das dritte Quartal 2021 angekündigt. Der GDV setzt derweil auf eine „schnellstmögliche Einrichtung­ eines frei zugänglichen Esap. Über den Esap sollten möglichst viele Daten verfügbar sein, um die Informationsbedürfnisse der ­Investoren zu erfüllen. Ein Esap sollte allerdings nur ein Tool zur Umsetzung bestehender Berichtsvorschriften darstellen und selbst keine zusätzlichen Berichtsvorschriften mit sich ­bringen“, wünscht sich der GDV. Auch gibt es eine Arbeitsgruppe von FinDatEx, einem Zusammenschluss von EU-Verbänden der ­Finanzwirtschaft (wie zum Beispiel Efama, Insurance Europe und seit April auch Pensions Europe), die an der Entwicklung und ­Nutzung von standardisierten Vorlagen für den Datenaustausch zwischen ­Unternehmen des EU-Finanzsektors im Bereich ESG ­arbeitet. Bei externer Kapitalanlage werden Altersvorsorgeeinrichtungen daher künftig auf solche ESG-Templates zugreifen können, hofft die Aba.

Was die CSR-Richtlinie angeht, auf deren Basis Unternehmen der Realwirtschaft in der EU über ESG-Faktoren berichten müssen, wird erwartet, dass die EU-Kommission den Richtlinienvorschlag noch im April veröffentlicht. „Die bisher gültige 500-Mitarbeiter-Schwelle dürfte deutlich und wahrscheinlich schrittweise abgesenkt werden“, erläutert Verena Menne, bei der Aba zuständig für die Themen Europa und OECD. „Die Tendenz ist klar: Mehr Unternehmen werden berichtspflichtig werden.“

Dass viele ESG-Ratings aufgrund der Angewiesenheit auf veröffentlichte Daten auch ihre Schwächen haben, ist kein Geheimnis. Durch die Informationen, die in Jahresabschlüssen und Nachhaltigkeitsberichten veröffentlicht werden, seien viele ESG-Ratings notwendigerweise rückwärtsgerichtet, weiß Dr. Michael Viehs, Head of ESG-Integration bei Federated Hermes. Auch unterschieden sich die ESG-Ratings oftmals stark voneinander. Aber: „ESG-Ratings können nur so gut sein, wie ihre Nutzer. Sie stellen nur ­einen Ausgangspunkt für die Investmentanalyse dar.“ Eine ­qualitative Analyse und Bewertung von ESG-Faktoren sei wichtig. „Außerdem spielt Stewardship eine große Rolle für die erfolgreiche Umsetzung eines nachhaltigen Investmentansatzes. Die aus dem Dialog mit einem Vorstands- oder Aufsichtsratsvorsitzenden ­gewonnenen Informationen zu wesentlichen ESG-Themen (keine Insiderinformationen) sind oftmals viel akkurater, aktueller und vorausschauender als ESG-Ratings von Drittanbietern“, so Viehs.

Scope 3 wird kaum berichtet

Auch die ESG-Rating-Agenturen bereiten sich auf die Sustainable ­Financial Disclosure Regulation, wie die Offenlegungsverordnung auf Englisch bezeichnet wird, und die Taxonomie, die ebenfalls zum 1. Januar 2022 gelten soll, vor. „Für die Erfüllung der Informationspflichten der Taxonomie-Verordnung und der Offenlegungs-VO erheben wir zusätzliche, passgenaue Datenpunkte, erläutert Markus Grünewald, Head of Research bei der ESG-Rating-Aagentur Imug Rating, Partner von V.E. Allerdings werde es sicherlich noch dauern, bis Unternehmen die Datenpunkte vollständig berichten und damit konsistente Informationen bereitstellen. Insofern wird es Datenlücken geben, meint Grünewald.

Auch zum Thema CO₂-Ausstoß veröffentlichen die Unternehmen häufig nicht genug verlässliche Daten: Das Green House Gas ­Protocol definiert hier drei Scopes: Wo Scope 1 die direkt durch den ­Produktionsprozess verursachten Emissionen an CO₂ und anderen Treibhausgasen bezeichnet, umfasst Scope 2 die direkten Emissionen­ durch den Strom- und Energieverbrauch der Firma am Werkssitz. Scope 3 dagegen umfasst alle indirekten Treibhausgas-Emissionen, die der Produktion vorgelagert und nachgelagert sind, also auch den CO₂-Fußabdruck der hergestellten Produkte. Daraus folgt, dass Scope 3 in vielen Branchen der entscheidende Faktor für die CO₂-Bilanz eines Unternehmens ist. Doch gerade hier ist die Datenlage häufig dramatisch schlecht.

Dass Frankreich und seine dort ansässigen Unternehmen in ­Sachen CO₂-Bilanz ein Vorbild sind, zeigte sich in einem virtuellen Expertengespräch der ­Candriam ESG Talks am 25. März mit der Fragestellung, wie man Investments mit dem Pariser Klimaabkommen in Einklang bringt (How to align investments with the Paris Agreement?). Jean-Yves Wilmotte, Manager beim auf Klimwandel-Fragen spezialisierten französischen Beratungshaus Carbone 4 und Mitglied der ­Expertengruppe zur nachhaltigen Finanzwirtschaft der EU-Kommission, erläuterte: „Verpflichtend muss Scope 3 derzeit nur in ­einem Land berichtet werden, nämlich in ­Frankreich. Die Tatsache, dass die Kohlenstoffbilanzierung, das Carbon ­Accounting, in Frankreich erfunden wurde, hat vielleicht dazu ­geführt, dass wir diese Standards haben und viele Unternehmen früher als in anderen Ländern damit begonnen haben, diese ­Emissionen zu messen. Aber Scope 1, 2 und 3 sind nur in Frankreich­ verpflichtend.“ Auf der ganzen Welt gebe es freiwillige Rahmenwerke für die Berichterstattung, natürlich auch für das Carbon ­Reporting. „Mittlerweile gibt es auf der ganzen Welt für Scope 1 und 2 meistens genaue Daten, für Scope 3 haben Sie aber nur Bruchstücke.­ Was unter Scope 3 oft ­angegeben wird sind zum ­Beispiel Geschäftsreisen, denn die sind wirklich einfach zu berechnen.­ Wenn Sie zum Beispiel ein Öl- oder Gasunternehmen sehen, das einen sehr kleinen Scope 3 hat, dann kommt das daher, dass es nur die Geschäftsreisen berichtet und nicht die ­Verwendung von verkauften Produkten (use of product sold), die einen großen Teil ihrer Scope-3-Emissionen ausmachen“, so Wilmotte.

Um Scope 1, 2 und 3 standardgemäß für alle Unternehmen zu ­ermitteln, berechnet Carbone 4 die Emissionen auf der Grundlage von ­physischen Daten. Dabei sei dann auch wichtig, Mehrfachzählungen zu vermeiden. Denn Scope 1 eines Unternehmens kann ­beispielsweise zugleich zu Scope 3 eines anderen ­Unternehmens zählen und umgekehrt. „Für mich ist die einzige Möglichkeit, ­vergleichbare Emissions-Daten zu ­erhalten, die ­Neuberechnung der Emissionen nach einem Bottom-up-Ansatz, der wirklich ins Detail der Aktivitäten eines Unternehmens geht“, betont Carbone-4-Manager Jean-Yves Wilmotte.

Dabei sind Daten zu CO₂-Berichterstattung nur ein kleiner Teil der CSR-Berichterstattung von Unternehmen. Um die Anforderungen der Investoren an die neue Nachhaltigkeitsregulierung der EU ­besser zu erfüllen, will die EU nun mit der neuen CSR-Richtlinie, die auch Non-Financial Reporting Directive genannt wird, nachbessern.­ Also nach der Vorgehensweise: Erst die Verpflichtung der Investoren, dann die Datenlage aus der Realwirtschaft verbessern. Man zäumt also das Pferd von hinten auf. In einem aktuellen Positionspapier hat der GDV fünf Prinzipien formuliert, die aus seiner Sicht mit der Überarbeitung der EU-Richtlinie umgesetzt werden sollten: Fokus auf die Informationsbedürfnisse der Haupt-Stakeholder, Einfachheit, Konsistenz und Proportionalität sowie die Interkonnektivität zur Finanzberichterstattung, wobei zum ­einen redundante Berichterstattung vermieden als auch zum anderen Standardsetzer für die Finanz- und die Nachhaltigkeitsberichterstattung kooperieren sollten, um die Konsistenz und Kohärenz der Unternehmensberichterstattung zu gewährleisten, so der GDV.

Wenig Daten zur Kreislaufwirtschaft

Wie die ESG-Rating-Agentur ISS ESG bekräftigt, sind die CSR-­Daten der Unternehmen eine entscheidende Quelle für ESG-­Ratings. Sie würden ergänzt „durch alternative Datenquellen für ein ausbalanciertes und holistisches 360-Grad-Bild der ESG-­Performance eines Unternehmens. Obwohl sich die Datenlage in den vergangenen Jahren durch Regulierung und freiwillige ­Reporting Standards verbessert habe, sind da immer noch thematische Lücken, inkonsistente Daten und Formate und ein fehlendes Reporting zu aufkommenden ESG-Themen, die bislang nicht ­ausreichend abgedeckt würden mit einer großen Bandbreite je nach Industrie, geografischer Verortung und Unternehmensgröße und -reife“, so Till Jung, Managing Director und Global Head of ESG Products bei ISS. Themen, für die sich ISS ESG mehr Offenlegungen wünscht, sind unter anderem das Thema Biodiversität, das Thema Wasser, Information/Cyber-Sicherheit, Steuern, ­Diversität und Inklusion, Elektronikschrott/Kreislaufwirtschaft/Wiederaufbereitung/Wiederverwendung, Humankapital, zum ­Beispiel nicht-reguläre Beschäftigung, Menschenrechte/Moderne Sklaverei, Umsatzdaten nach Wirtschaftszweigen/Produkten und Dienstleistungen und Sozial- und Umweltstandards in Lieferketten.­ Modellierte Daten nutze man jedoch für das Unternehmens-Rating nicht: „Tatsächlich misst das ESG-Unternehmens-Rating von ISS die Performance und wird daher keine modellierten Daten verwenden, da dies die auf tatsächlichen Daten basierende Leistungsbeurteilung verwischen würde und tatsächlich einen Anreiz für Low-­Performer darstellen würde, nicht zu berichten, da diese besonders von modellierten Daten profitieren“, sagt Till Jung. „Wenn es ­beispielsweise keinen Hinweis auf die Existenz eines Biodiversitätsmanagements durch das Unternehmen gibt, würden wir nicht davon ausgehen, dass es eines gibt, basierend auf der durchschnittlichen Leistung der Peer Group. Und wir würden keine positive ­Bewertung auf die modellierten durchschnittlichen Daten zur ­Wassernutzungsintensität für ein Unternehmen anwenden, das keine Angaben zur Wassernutzung macht.“ Zum Zweck des ­Carbon Footprinting und der Portfolioanalyse modelliert ISS ESG Treibhausgas-Emissionsdaten für Unternehmen, die solche Daten nicht konsistent berichten. „Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass modellierte Daten aus den oben genannten Gründen nicht als Grundlage für Leistungsbewertungen im ESG-Unternehmens-Rating verwendet werden.“

Wo es beim Datenmanagement aber nur mit Schätzungen funktioniert, ist der Anwendungsbereich Taxonomie-­bezogener Indikatoren. So erklärt Till Jung von ISS: „Ein ­weiterer Bereich, in dem ­Näherungswerte verwendet werden, ist die kürzlich eingeführte ISS ESG EU Taxonomy Alignment ­Solution, die ­eine Modellierung zur Schätzung der Einnahmen aus taxonomierelevanten Aktivitäten verwendet. Sie nutzt auch ­Leistungsindikatoren aus dem ESG Corporate Rating und Bewertungen aus dem Norm-Based Research von ISS ESG, um die ­Ausrichtung einer Firma an den detaillierten regulatorischen Anforderungen­ in den Bereichen ‚Substantieller Beitrag‘, ‚Do No Significant Harm‘ und ‚Social Safeguards‘ näherungsweise zu bestimmen.“

Biodiversität wird Top-Thema

Die nicht-finanzielle Berichterstattung wird das auf Dauer nicht ­ersetzen. Insbesondere für Unternehmen, die nachhaltig ­wirtschaften und zu einem Umbau der Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit beitragen, ist es sehr wichtig, auch umfassend zu berichten. Der Druck auf die Portfoliounternehmen wird künftig steigen, denn immer mehr Daten wollen erhoben werden, um auch der Herausforderung des Schutzes der Biodiversität gerecht zu werden. So kommt eine aktuelle Studie der Credit Suisse (Un­earthing Investor Action on Biodiversity) und des Online-Magazins Responsible Investor zum Thema Biodiversität zu dem Schluss, dass dieses Umweltthema für Investoren in den kommenden ­Jahren eine überragende Bedeutung erlangen wird. Einer entsprechenden Umfrage unter Investoren zufolge äußerten sich 84 ­Prozent der Investoren besorgt über den Verlust der Biodiversität. 55 Prozent von ihnen glauben, dass das Thema Biodiversität in den nächsten 24 Monaten angegangen werden sollte. 67 Prozent geben an, dem Thema bereits Beachtung im Portfoliokontext zu schenken.­ 51 Prozent glauben zudem, dass Biodiversität zu den Top Themen unter Investoren im Jahr 2030 gehören wird. Als Haupthindernis für mehr Berücksichtigung des Themas bei Investitionen sehen aber etwa 70 Prozent der Investoren die mangelnde Datengrundlage­ in diesem Bereich an. Die Umfrage wurde unter 327 Investoren aus 35 Ländern, etwa zur Hälfte Asset Owner und zur Hälfte Asset ­Manager, durchgeführt.

Der Asset Manager Ossiam, der zu Beginn dieses Jahres seinen Biodiversity-ETF aufgelegt hat, fokussiert sich dabei auf globale Nahrungsmittel­produzenten und die Agrarwirtschaft. Die Verbesserung der ­Datenlage sieht Carmine de Franco im Augenblick hier vor allem im sozialen Bereich: „Gerade beim Faktor Soziales sehen wir ­Verbesserungen in den Lieferketten der Unternehmen. Viele ­Hersteller verfolgen die Lieferkette stärker nach und berichten über die Zahl der Leiharbeiter und die Fluktuation der Mitarbeiter“, so de Franco. ­Namen wie Unilever und Nestlé finden sich im Portfolio ebenso wie Danone und McDonalds.

Auch bei MSCI wird aktuell das Thema Biodiversität stark nachgefragt. „Im Moment bekommen wir viele Kundenanfragen, wie der Impact von Unternehmen auf die Biodiversität gemessen werden kann. Die gesamten Auswirkungen von Geschäftstätigkeiten auf die biologische Vielfalt zu erfassen und abzuschätzen ist de facto unmöglich. Das es gibt hier Ansätze“, meint Arne Klug, ­ESG-­Analyst und Lead-Analyst für den Transportsektor bei MSCI. Die Rating-Agentur bewertet zum Beispiel, wieviel Umsatz Unternehmen in Regionen erzielen, die besonders biologisch wertvoll oder von ­Abholzung bedroht sind. Und mit welchen Maßnahmen Unternehmen Umweltauswirkungen­ reduzieren wollen, so Klug. „Beim Thema ­Wasserknappheit ­greifen wir zum Beispiel auf sehr gute Datenbanken von wissenschaftlichen Instituten zurück. Danach können wir Risiken ­abschätzen, die Unternehmen eingehen, wenn sie in bestimmten Gebieten produzieren.“ Was erwartet Klug von der bevorstehenden­ Überarbeitung der CSR-Richtlinie durch die EU? „Für uns wird sich gar nicht mehr soviel ändern, denn viele Daten, die berichtet werden, sind für unser Rating nicht zwangsläufig ­relevant“, meint der Analyst. Er nennt hier als Beispiel ­Banken, die ihren Wasserverbrauch reporten. Oder das Beispiel von Automobilherstellern, die oftmals sehr heterogene Ansätze ­verwendeten, um Scope-3-Emissionen zu berichten. „Jeder Hersteller hat seinen eigenen Ansatz, wie er die Daten erhebt und ­ermittelt.“ MSCI greife deshalb zum Beispiel auf Daten von ­Gesetzgebern wie der EU oder der amerikanischen Umweltbehörde zurück. „Danach treffen wir bestimmte Annahmen über die ­Lebensdauer und die durchschnittliche Kilometeranzahl­ pro Jahr und kommen so zu belastbaren Ergebnissen bei Scope 3.“ Eine ­hohe Berichtsdichte helfe nicht immer, klarere Aussagen über die ESG-Performance treffen zu können. ­Investoren stünden oft vor dem Problem der mangelnden ­Standardisierung der Daten.

Ein wesentliches Feld der ESG-Rating-Agenturen sind auch Informationen aus dem Sekundärresearch, die die Agenturen von ­Behörden, Institutionen, NGOs und den Medien beziehen und die sie auf Kontroversen bei den gerateten Unternehmen screenen. Markus Grünewald von Imug Rating/V.E. weist darauf hin, dass nur große Unternehmen mit 500 Mitarbeitern oder mehr bisher verpflichtet sind, Transparenz über ökologische und soziale Aspekte der Geschäftstätigkeit herzustellen. Es erfordere allerdings eine noch längst nicht komplette CSR-Berichterstattung, die Transparenzanforderungen der neuen Sustainable Finance Disclosure Regulation ­erfüllen zu können. Bei der Abschätzung von Klimarisiken greife man deshalb auf die Expertise von Four Twenty Seven zurück, ­einem Partner von Moody’s ESG Solutions. Auch MSCI geht bei Klimarisiken ähnliche Wege. Vor zwei Jahren hat man das Start-up Carbon Delta aus Zürich gekauft, welches wissenschaftlich fundierte­ Modelle entwickelt hat, um die Risiken des Klimawandels für Unternehmen zu bewerten.

Und Andrea van Dijk von Sustainalytics stellt fest: „Wenn es um große Datensammlungen geht, ­nutzen wir künstliche Intelligenz in vielen unserer Prozesse, aber die Daten sind oft nicht standardisiert genug. Die Analyse der ­Daten erfolgt daher durch unsere ­Mitarbeiter. Die Schaffung einer zentralen Datenbank wie der des Esap durch die EU begrüßt van Dijk: „Die EU geht hier anderen Märkten voran. Andere Jurisdiktionen schauen mit Interesse ­darauf, was Europa tut.“

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