Strategien
19. Januar 2012

Unzeitgemäßes Risikomanagement

Die Autoren vertreten die These, dass der Ansatz der Spieltheorie eine sinnvolle Alternative beim Risikomanagement ist. Die Wahrscheinlichkeitstheorie sei keinesfalls die allein selig machende Praxismethode. Die Autoren zeigen, dass und warum die Verfechter dieses Ansatzes unrecht haben und sogar unehrlich argumentieren.

In unserem Beitrag für portfolio institutionell vom Juli 2011 haben wir den Ansatz der Wahrscheinlichkeitstheorie beim Risikomanagement massiv kritisiert und als Alternative den Ansatz der Spieltheorie vorgeschlagen. Aus der Praxis hören wir immer wieder den folgenden Einwand: Die Spieltheorie ist nur als Erklärungsmodell brauchbar; für Handlungsanweisungen für tägliche Entscheidungsprobleme ist die Spieltheorie im Gegensatz zur Wahrscheinlichkeitstheorie unbrauchbar. Diese Aussage findet man auch in jedem modernen Lehrbuch zum Risikomanagement. Der Ansatz der Wahrscheinlichkeitstheorie wird als die allein selig machende Praxismethode angepriesen. Im vorliegenden Beitrag zeigen wir, dass und warum die Befürworter des Ansatzes der Wahrscheinlichkeitstheorie unrecht haben. Wir zeigen ferner, dass und warum die Verfechter des Ansatzes der Wahrscheinlichkeitstheorie unehrlich argumentieren.

_Keine eindeutigen Lösungen

Im Prinzip haben beide oben angesprochenen Ansätze mit den gleichen methodischen Problemen zu kämpfen. Die Realitäten der Finanz­welt sind so komplex, dass man in beiden Fällen bestenfalls die Strukturen für die Problemlösung identifizieren kann. Die „Kunst des Praktikers“ besteht dann darin, für die identifizierte Struktur den „richtigen“ Modelltyp zu finden. In einem Fall ist das ein Spielmodell, in einem anderen Fall ist das ein Wahrscheinlichkeitsmodell. Hier trennen sich aber die Wege. Das Spielmodell hat im Regelfall eine sehr unangenehme Eigenschaft: Es hat multiple Lösungen. Der Spieltheoretiker akzeptiert daher die Tatsache, dass in vielen Fällen eindeutige ­Modelllösungen nicht existieren. Dieser Sachverhalt reflektiert die unbefriedigende – vielleicht jedoch einzig mögliche – Einsicht, dass es in vielen Entscheidungssituationen einen eindeutig richtigen Lösungsweg­ gar nicht gibt. Der Entscheidungsträger ist daher gezwungen, aus der Vielzahl möglicher Lösungen genau eine subjektiv präferierte Lösung auszuwählen. Dabei ist ihm sehr klar: Die Verantwortung für seine Entscheidung liegt ausschließlich bei ihm selbst. 

Der Wahrscheinlichkeitstheoretiker steht grundsätzlich vor dem gleichen Problem. Im Regelfall haben Wahrscheinlichkeitsmodelle ebenso wenig eindeutige Lösungen wie Spielmodelle. Folglich müssten­ sich Wahrscheinlichkeitstheoretiker ebenfalls für genau eine subjektiv präferierte Lösung entscheiden, und zwar auf eigene Verantwortung und Haftung. Genau diese Konsequenz wollen aber die im Risikomanagement tätigen Wahrscheinlichkeitstheoretiker um jeden Preis vermeiden. Dazu müssen sie einen Trick anwenden. Das ist die oben erwähnte Stelle, an der es „unehrlich“ wird. Welcher Trick kommt zur Anwendung? Der Wahrscheinlichkeitstheoretiker im Risiko­management sucht sich aus der Vielzahl der möglichen Modelle­ genau den Typ heraus, der eine eindeutige Lösung garantiert. Eindeutigkeit wird zum Selbstzweck bei der Modellauswahl; die konkrete Struktur des Entscheidungsproblems spielt bei der Auswahl keine Rolle mehr. Die Vorschrift lautet: Augen zu, damit man eine eindeutige­ Lösung errechnen kann. Es werden eine beherrschbare Finanzwelt und eine gefährliche Scheinsicherheit vorgegaukelt. Man schaue sich zum Beispiel das Modell von Markowitz an. Dessen Siegeszug in der Risikotheorie basiert allein auf dem Sachverhalt, dass mit der Volatilität­ eine eindeutige Risiko­größe berechnet werden kann.

Was ist grundsätzlich falsch am Ansatz der Wahrscheinlichkeitstheorie im Risikomanagement? Um einem Missverständnis vorzubeugen: Wir kritisieren nicht die Wahrscheinlichkeitstheorie per se. Wir kritisieren ausschließlich die unreflektierte Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie bei Entscheidungen im Risikomanagement. Wahrscheinlichkeitsüberlegungen sind sinnvoll, wenn naturwissenschaftliche Fragestellungen vorliegen. Hier resultiert Ungewissheit aus der Unkontrollierbarkeit alternativer Umweltzustände. Man spricht von Zustandsrisiken. Wie beim Roulette existiert für jedes­ Ereignis eine „von Gott“ gegebene Eintrittswahrscheinlichkeit. In Wirtschaftsszenarien ist das anders. Hier folgt die Ungewissheit aus der Unvorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens und nicht aus der Unkontrollierbarkeit von Ereignissen. Jetzt ist von Verhaltensrisiken die Rede. Das ist eine ganz andere Welt. Dennoch arbeitet man im Finanz­bereich mit der Vorstellung, das Eintreten bestimmter Reaktions­muster sei durch Zustandsrisiken vorbestimmt. Um die Modell­welt der Realität anzupassen, wird für den Finanzbereich das Konzept der Apriori-Wahrscheinlichkeiten durch historische Wahrscheinlichkeitsdaten ersetzt. Damit ist der Modellrahmen beim finanz­wirtschaftlichen Risikomanagement klar charakterisiert. Durch eine umfassende Analyse der Vergangenheitsdaten können die Eintrittswahrscheinlichkeiten für zukünftige Ereignisse berechnet werden. 

_Nicht Roulette, sondern Poker

Wie irreführend dieses Weltbild ist, soll anhand eines Vergleichs demonstriert werden. Dazu wird ein Fall aus der Naturwissenschaft mit einem aus der Sozialwissenschaft verglichen. Für das naturwissen­schaftliche Experiment gilt die folgende Argumentation: Kein Mensch kontrolliert das Eintreten eines Erdbebens oder Tsunamis. Ein individueller Entscheidungsträger kontrolliert aber sehr wohl, ob er sich diesem Risiko aussetzen will oder nicht. Wie tut er das? Er wohnt einfach nicht in einer Gegend wie etwa Japan, Indonesien oder Kalifornien.­ Hat seine Entscheidung irgendwelche Rückwirkungen auf das Eintreten oder Nicht-Eintreten des Naturereignisses? Nein, es besteht kein Zusammenhang zwischen dem individuellen Handeln und dem Eintritt des Ereignisses. In der Terminologie der Spieltheorie sagt man: Der Entscheidungsträger spielt gegen eine passive Natur. Genau diese Besonderheit wird durch das Roulette-Spiel zum Ausdruck gebracht. Dieser Vorstellung folgen die Risikomanager auch bei der Modellierung des Finanzmarktgeschehens. Wie absurd diese Idee ist, zeigt das folgende Beispiel.

Jetzt beschreiben wir ein analoges Experiment für den Finanz­sektor. Kein Mensch kontrolliert das Eintreten einer globalen Finanzkrise. Ein individueller Entscheidungsträger kontrolliert aber sehr wohl, ob er sich hohen finanziellen Risiken aussetzen will oder nicht. Wie tut er das? Er kauft einfach keine hoch riskanten Anlagetitel. Hat sein Verhalten Rückwirkungen auf das Entstehen oder Nicht-Entstehen­ einer globalen Finanzkrise? Jetzt müssen wir erkennen, dass wir nicht mehr wie oben „nein“ sagen können. Die Antwort lautet: Ja, die Entscheidung hat massive Konsequenzen. Welche? Wenn kein Anleger hoch riskante Titel kauft, werden die Anbieter diese Titel bald nicht mehr nachliefern. Die Folge: Diese Titel ver­schwinden vom Markt. ­Eine globale Finanzkrise kann dann nicht eintreten. Im Gegensatz zum Fall eines Erdbebens sehen wir, dass das Verhalten der Marktteilnehmer massive Konsequenzen für den Eintreten oder Nicht-Eintreten des Ereignisses hat. Finanzkrisen sind hausgemacht. Von ­exogenen oder „von Gott“ gegebenen Eintrittswahrscheinlichkeiten kann keine Rede mehr sein. Somit ist das Roulette-Modell für den Finanzsektor völlig unbrauchbar. Es muss nach unserer Auffassung durch das Modell­ des Poker-Spiels ersetzt werden.

_Nutzlose Vorgehensweise

Vermutlich ist der Leser jetzt der Meinung, wir würden den Rückgriff auf Vergangenheitsdaten im Risikomanagement generell für nutzlos halten. Das ist nicht richtig. Wir müssen differenzieren und genau sagen, von welchen Datentypen wir eigentlich sprechen. Im Modell der Wahrscheinlichkeitstheorie arbeitet man mit Zeitreihen für Kurse oder Renditen der betrachteten Wertpapiere. Daraus werden Verteilungsfunktionen sowie die dazugehörigen Verteilungspara­meter berechnet. Man ist ausschließlich an Daten über Gesamtergebnisse interessiert. Wie der folgende Hinweis zeigt, ist diese Vor­gehensweise in der Tat völlig nutzlos. Der Hinweis bezieht sich auf ein Fußballspiel. Annahmegemäß sei die nächste Aussage durch eine lange­ Zeitreihe von Daten eindeutig belegt: Mannschaft A hat noch nie ein Spiel gegen Mannschaft B gewinnen können. Steht damit für das nächste Spiel der Sieg von Mannschaft B eindeutig fest? Die ­Antwort ist: Nein. Ist damit die Analyse von Vergangenheitsdaten nutzlos? Die Antwort lautet jetzt auch: Nein. Wie kann das sein? 

Beide Antworten sind kein Widerspruch. Es gilt, folgende Punkte zu beachten. Um ein Ereignis zu prognostizieren, muss man in die Zukunft schauen. Dazu braucht man Detailinformationen über ergebnis­relevante Einflussfaktoren. Detailinformationen über Einflussfaktoren dürfen aber nicht mit Pauschalinformationen über Gesamt­ergebnisse verwechselt werden. Natürlich muss man in die Vergangenheit schauen, wenn man Detailinformationen über ­Ursachen und Wirkungen gewinnen will. Wichtig sind dabei ­besonders die Details über die beteiligten Entscheidungsträger, deren Strategien, die Spielregeln und die Auszahlungen für die Akteure. Die Infor­mationen darüber, das sei noch einmal betont, gewinnt man aus ­Vergangenheitsdaten. Der Leser wird aber erstaunt sein, dass die oben genannten­ Punkte die zentralen Bausteine eines Spielmodells sind. Wenn man zu diesen Bausteinen die erforderlichen ­Detailinformationen besitzt, steht einer erfolgreichen Durchführung der spieltheoretischen Analyse nichts mehr im Weg.

Ein weiterer Aspekt muss angesprochen werden. Es gibt Informationen, die in den Vergangenheitsdaten nicht enthalten sein können. Dazu gehören etwa neu eingeführte Regulierungsvorschriften oder Anreizbedingungen. Wenn man sich die Daten der Vergangenheit ­anschaut, hat man keine Chance, irgendwelche Informationen ­darüber zu finden. Wie können diese Informationen also Wirkungen auslösen?­ Bei Ökonometrikern trifft unsere Reservation auf Widerspruch. Sie akzeptieren, dass Verteilungsparameter aus historischen Daten kalkuliert werden, wenden dann aber ein, dass mit expertenbasierten und zukunftsorientierten Verfahren die neuen Zusatzinformationen durchaus in die Datensätze eingearbeitet werden können. Wie das konkret erreicht werden kann, ist und bleibt das Geheimnis dieser ­Experten. Aus empirischer Sicht ist der Einspruch der Experten in ­jedem Fall ein Eigentor. 

Die Finanzkrise 2008 und die aktuelle Krise haben­ in dramatischer­ Form gezeigt, dass die Experten einfach nicht in der Lage sind, brauchbare Korrekturen an Informationen vorzunehmen. Wie oben schon gesagt wurde, sind die Prognosen Lichtjahre von der Realität entfernt. Für die Abweichungen entschuldigen sich die Experten nachträglich mit Illusionen über die Prognosequalität der eingesetzten Korrekturverfahren. Die von den Experten vorgeschlagenen Konsequenzen sind abenteuerlich. Sie fordern mehr Forschungsmittel zur Fortentwicklung und Verbesserung der Prognoseverfahren. Dass sie eine Irrlehre vertreten, haben sie offensichtlich noch immer nicht begriffen.­ 

_Unzulässige Tricks

In der Einleitung hatten wir behauptet, die Wahrscheinlichkeitstheoretiker würden bei ihrer Analyse mit der Ausrede „Eindeutigkeit“ auf unzulässige Tricks zurückgreifen. Diese Behauptung muss ­begründet werden. Das Modell von Markowitz wurde schon erwähnt. Es ist vom Ansatz her so einfach strukturiert, dass nur eindeutige ­Ergebnisse und eindeutige Kennzahlen herauskommen können. Die Finanz­welt ist natürlich wesentlich komplizierter, wenn man etwa ­Derivate oder Verbriefungstranchen berücksichtigt. Die dabei zustande­kommenden empirischen Zufallsgrößen müssen näherungsweise durch einen theoretischen Zufallsprozess abgebildet werden. Aus mathematischer Sicht haben die verschiedenen Prozesse sehr unterschiedliche Eigenschaften; „gute“ und „schlechte“, „bekannte“ und „unbekannte“. Jeder Risikomanager, der eine Zuordnung vornehmen muss, wird sich für einen Prozesstyp mit „bekannten“ und „guten“ ­Eigenschaften entscheiden. Wir werden im nächsten Abschnitt ­zeigen, um welchen Zufallsprozess es sich dabei handelt.

Der gesuchte Prozess wird in der Wahrscheinlichkeitstheorie als „Martingal“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen Prozess, bei dem der Erwartungswert mit dem letzten Beobachtungswert identisch ist. Man kann auch sagen: Die zuletzt beobachtete Zufallsgröße ist der beste Schätzwert künftiger Realisationen. Ein Prozess mit der genannten­ Eigenschaft ist für Theoretiker interessant, weil es in der Realität eine Vielzahl praktischer Anwendungsfälle gibt. Das bekannteste Beispiel steht in jedem Lehrbuch. Eine Person sucht ihren Hund und fragt den Nachbarn. Dieser antwortet etwa so: Ich habe den Hund zuletzt oben an der Ecke gesehen. Der Erwartungswert beim Suchprozess ist also die obere Ecke. Dieses Szenario wird durch das Martingal nachgebildet. Die Martingaleigenschaften sind in der Wahrscheinlichkeitstheorie gut erforscht. Mit Hilfe wichtiger Werkzeuge, wie etwa der Lemmata von Ito und Girsanov oder der Martingalkonvergenz, ist man in der Lage, Praxisprobleme schnell zu lösen.

Im Prinzip versteht der Praktiker natürlich überhaupt nicht, was bei der Analyse mit Martingalen im Detail passiert. Ein genaues ­Verständnis der Martingaltheorie ist auch gar nicht erforderlich. Auf jedem Computer gibt es Programme, die eine Berechnung der Lösung sicherstellen. Man muss nur die exakt spezifizierten Inputs in ein Spreadsheet eingeben und dann die F9-Taste bedienen. In ihrem Buch „Fool’s Gold“ bezeichnet Gillian Tett diese Anwender als „F9 Model Monkeys“. Das Martingal hat für den Praktiker einen großen Vorteil. Er ist in fast jeder Situation in der Lage, eindeutige Lösungen zu errechnen. Damit hat der Praktiker sein Ziel erreicht. Er braucht nicht mehr eigenverantwortlich eine bestimmte Lösung auszuwählen. Für den Fall, dass die berechnete Lösung dann doch nicht optimal war, hat er immer die Möglichkeit, die Verantwortung auf das Modell abzuschieben.­ Auch ohne Sachkompetenz kann sich der Praktiker als Top-Experte im Risikomanagement präsentieren. Für den Kunden ist die Lösung glaubwürdig, weil sie sich auf unfehlbare ­Finanzmathematik stützt. Damit wird die Festlegung auf Martingale letztlich zu einem­ Marketinginstrument degradiert. Durch die Auswahl des konkreten stochastischen Prozesses wird ein seriöses wissenschaftliches Vor­gehen auf den Kopf gestellt. Typischerweise geht man von der Realität aus und sucht dann das geeignete Modell.­ Im Risikomanagement geht man dagegen vom Modell aus und ignoriert die Realität. Gibt es die im Modell unterstellte Realität nicht, wird sie durch das Erzählen von Märchen künstlich geschaffen. Wie sieht diese fiktive Märchenwelt aus? 

Wenn – wie beim Martingal postuliert – der zuletzt beobachtete Preis eines Wertpapiers ebenso groß ist wie der Mittelwert künftiger Preise, dann hat der Anwender keine Chance, mit seiner Anlageentscheidung einen positiven Kursgewinn zu erwirtschaften; es gibt keinen­ „free lunch“. Die „No free lunch“-Fairness ist die Basis der neu erfundenen Realität. Diese Eigen­schaft deckt sich perfekt mit dem Weltbild von Pietisten und Puritanern angelsächsischer Prägung. Die Ideologie dieser Glaubensgemeinschaften ist dadurch gekennzeichnet, dass das Weltgeschehen gerecht, fair und bibelkonform ablaufen muss. Genau diese Besonder­heit kommt im Martingal zum Ausdruck. Die Finanzierungstheoretiker­ haben für dieses Weltbild den Begriff „Arbitragefreiheit“ erfunden. 

_Arbitragefreiheit empirisch nicht bestätigt

Fast jedes Finanzierungslehrbuch beginnt auf der ersten Seite mit folgender Aussage: Finanzmärkte sind immer und überall durch die Eigenschaft der Arbitragefreiheit charakterisiert. Daraus folgt die ­Behauptung, für jeden finanzwirtschaftlichen Zufallsprozess kann die Martingaleigenschaft postuliert werden. Ein sehr wichtiger Anwendungsfall ist die Erklärung der Preisbildung für Finanzaktiva. Jeder Preisbildungsprozess basiert heute auf der Annahme der Arbitragefreiheit. Die bekanntesten Beispiele sind die Modelle von Black und Scholes­ sowie von Merton. Aus Sicht der Finanzierungstheoretiker ist dieser Ansatz alternativlos. Es gibt nur ein einziges Problem dabei: Die empirische Evidenz hat noch nie die Hypothese der Arbitrage­freiheit bestätigen können. Warum halten Risikomanager dann an Arbitrage­freiheit und Martingal­eigenschaft fest? 

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum Ersten schreiben­ die ­Aufsichtsbehörden in den Regulierungen der Banken die Haltung von Mindestbeständen an Eigenkapital vor. Deren Höhe soll mit dem ­Konzept des Value-at-Risk berechnet werden. Dieses aus den Ingenieur­wissenschaften übernommene Konzept basiert auf der Wahrscheinlichkeitstheorie. Daher sind Banken gezwungen, dieses Konzept anzuwenden. Zum Zweiten sichern Banken sich mit dem Zugriff auf spezielle stochastische Prozesse die Chance, eindeutige Lösungen zu präsentieren. Das ist für die Reputation und für die ­Geschäfte sehr wichtig. Ein Kunde kauft natürlich sehr willig ein ­Finanzprodukt, dessen Qualität durch den Hinweis auf die ­„unfehlbare Finanzmathe­matik“ glaubwürdig gemacht wurde. Es gibt noch einen dritten Grund. Die Risikomanager sehen sehr wohl den Schaden, den sie in den verschiedenen Krisen angerichtet haben. Sie können aber sicher sein, dass sie einen Schaden nicht selbst bezahlen müssen; sie dürfen die Rechnung an den Staat weiterleiten. Sie wissen, wie man die Zwangslage des Staates ausnutzen kann. Ohne die Begleichung der Rechnung durch die Steuerzahler würde der Finanz­sektor einfach zusammenbrechen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen wären ­unkontrollierbar groß. 

Dieses Risiko kann und will der Staat nicht eingehen. Daher ist es für die Risikomanager und Banker völlig risikolos, an den falschen Konzepten festzuhalten. Dass sie damit die eigenen Spielregeln verletzen, ist ihnen egal. Sie holen sich vom Staat genau den „free lunch“, den es nach dem Credo der eigenen Modelle gar nicht geben darf. Und damit nicht genug. Sie rechtfertigen­ ihr Vorgehen sogar wie folgt: Da es trotz des fairen Ansatzes der Arbitragefreiheit im Finanzsektor zu Verlusten gekommen ist, muss eine höhere Macht im Spiel gewesen sein. Das ist der Staat mit seiner hohen Verschuldung. Daher ist es aus Bankensicht nur fair und gerecht, wenn der Staat auch die ­Verluste übernimmt. Zu dieser „Logik“ fällt uns nichts mehr ein. 

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