Pension Management
13. Oktober 2016

Zurück zu den Wurzeln

Weltweit machen sich Menschen Sorgen um ihren Lebensabend. Denn die Höhe ihrer staatlichen Rente basiert auf einer Gleichung mit mehreren Unbekannten. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um ein umlagefinanziertes System handelt oder ein kapitalgedecktes. ­Beide haben Tücken, wie ein Blick nach Chile zeigt.

Die umlagefinanzierte Rente hat in der Bundesrepublik Deutschland eine herausragende Bedeutung und eine lange Tradition, die in die Zeit der industriellen Revolution um das Jahr 1880 zurückreicht. Und nach Einschätzung der Deutschen Bundesbank wird sich – eine handfeste Reform mit weiter steigendem Renteneintrittsalter jenseits der für die Zukunft bereits festgezurrten 67 Jahre vorausgesetzt – daran nichts ändern. In anderen Ländern vertraut man derweil schon lange nicht mehr auf eine solche umlagefinanzierte Rente. Vielmehr setzt man beispielsweise in Chile seit mehr als drei Dekaden auf kapitalgedeckte und privat administrierte Rentenmechanismen. Sie sollen das Einkommen im Rentenalter ­sicherstellen. Doch das vielbeachtete Vorhaben gestaltet sich schwierig; hohen erwarteten Renten stehen in der Realität nach Abzug der Kosten nur magere Einkünfte gegenüber. Aber der Reihe nach.

Die Republik Chile zählt geschätzte 18 Millionen Einwohner, deren Altersvorsorge zum Leidwesen vieler längst nicht mehr auf einer umlagefinanzierten Rente basiert, sondern seit mehr als drei Jahrzehnten auf einem voll finanzierten Kapital­deckungsverfahren, das als individuelles beitragsorientiertes Rentensystem (individual defined contribution (IDC)) eingestuft werden kann. Bei einem solchen Konzept liegen die Investmentrisiken beim Einzelnen und nicht etwa beim Arbeitgeber oder einer Versicherung.
Chile wird inzwischen in der vom Beratungshaus Willis Towers Watson ausgearbeiteten Global-Pension-Asset-Studie zu den 19 wichtigsten Pensionsmärkten gezählt. Während das Verhältnis von Pensionsvermögen zur jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) hierzulande gegenwärtig magere 12,7 Prozent beträgt, liegt der relative Anteil der Pension ­Assets gemessen am BIP in Chile schon bei 66,4 Prozent. Absolut ­betrachtet sind die Pensions Assets in der Bundesrepublik von 427 Milliarden US-Dollar allerdings deutlich größer als der Rentensparstrumpf der Chilenen (159 Milliarden US-Dollar). Dafür hat die ­Bundesrepublik aber auch ein Vielfaches an Einwohnern.
Chile: Vorreiter bei der Kapitaldeckung
Das chilenische Rentenkonzept mit seiner auf Kapitaldeckung ausgelegten Finanzierung stieß weltweit auf großes Interesse und wurde bereits in dutzenden anderen Ländern nachgeahmt. Den Einheimischen selbst passt es aber schon lange nicht mehr in den Kram, da es die Erwartungen bislang verfehlt hat. Einfache Rentner, die nicht im Militär waren, das nach wie vor über ein umlagefinanziertes Renten­system verfügt, können ein Lied davon singen: Ihre Einkünfte aus der kapitalgedeckten Rente sind viel zu mager, als dass sich mit ihnen ein auskömmlicher Lebensabend genießen ließe. Ende August haben ­daher landesweit hunderttaussende Menschen für die Abschaffung des privat administrierten Rentensystems demonstriert. Die ­Protestaktionen in mehr als 50 Städten reichten nach Angaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) „bis nach Feuerland und zur ­Robinson-Crusoe-Insel im Pazifischen Ozean.“ Es sei bereits die ­zweite Groß­demonstration gegen das ­Rentensystem innerhalb von wenigen Wochen gewesen, berichtet der zuständige Korrespondent.
Im Juli waren in der Landeshauptstadt Santiago bereits 150.000 Menschen auf die Barrikaden gegangen. Die Protestaktion „No+AFP“ ­beklagt laut dem Zeitungsbericht, dass nach dem 1981 eingeführten privaten Rentensystem viel zu niedrige Leistungen gezahlt werden. Dem Bericht zufolge erhalten die meisten Chilenen eine wesentlich ­geringere Rente als die bei der Einführung des Systems in Aussicht ­gestellten 70 Prozent des letzten Arbeitseinkommens. Die Durchschnittsrente liege bei 38 Prozent des letzten Gehalts. 90 Prozent der Rentner erhielten weniger als umgerechnet 206 Euro monatlich. Das entspreche nur etwa der Hälfte­ des Mindestlohns. Dabei hat kaum ein anderes Land der Welt sein Rentensystem so frühzeitig und so ­grundlegend reformiert und in den vergangenen 36 Jahren so weit­reichende Erfahrungen gesammelt wie Chile: Das Rentenversicherungs­system wurde unter der Militärdiktatur­ Augusto ­Pinochets vom ­Umlageverfahren auf das ­Kapitaldeckungsverfahren umgestellt.

Zu diesem Zweck wurden ­verschiedene private Rentenfonds ­gegründet. Für alle Bürger, die laut gesetzlicher Definition ­Arbeiter sind, müssen die Arbeitgeber einen Teil des steuerpflichtigen ­Einkommens an einen Pensionsfonds ­abführen, dessen Vermögen wiederum von einer privaten ­Verwaltungsgesellschaft ­(Administradora de Fondos de Pension (AFP)) verwaltet wird. Das angesammelte ­Kapital und die ­darauf erwirtschafteten Erträge sollen als Alters- oder Hinterbliebenenrente ausgezahlt werden. Das Renteneintrittsalter für Männer liegt bei 65 Jahren, für Frauen bei 60 Jahren. Doch dabei wird es nicht bleiben. In Zukunft werden die Frauen voraussichtlich ­ebenso lange arbeiten müssen wie ihre männlichen Kollegen. Und es sollen weitere Eckpunkte am bestehenden Rentensystem korrigiert werden. Schon 2008 wurde am chilenischen Rentensystem herumgedoktert. Mit ­begrenztem Erfolg.

Giganten unter sich
Die Chilenen genießen in der Akkumulationsphase einen großen Freiraum. Das geht aus einer Untersuchung von Manuel Garcia-­Huitron und Michail van Leuvensteijn hervor, die beide für den nieder­ländischen Pensions-Provider APG arbeiten. Demnach hatten die ­künftigen Rentner bis zur jüngsten Rentenreform im Jahr 2008 die Möglichkeit, einen der im Wettbewerb stehenden Pensionsfonds-­Administratoren frei auszuwählen und diesen bei Nichtgefallen durch einen anderen ­Anbieter auszutauschen. Seither kommt nun aber eine Art ­Auktionsverfahren zum Einsatz, bei dem die Anbieter im Kampf um Kundengelder gegeneinander antreten. Der Gewinner des Wettstreits kann die gesamten Einzahlungen neuer Anwärter auf sich ­verbuchen. Und wir reden hier nicht von Pommesbuden.
Mehrere chilenische Verwaltungsgesellschaften gehören zu den 300 größten Pensionseinrichtungen der Welt. Das vielbeachtete Ranking von ­Willis Towers Watson und dem US-Fachmagazin „Pensions & Investments“ wird angeführt vom japanischen Pensionsfonds „Government ­Pension Investment“ mit einem Anlagevolumen von 1,16 Billionen US-Dollar. Der erste Vertreter aus Chile findet sich auf Rang 84: AFP Provida bringt es auf Assets in ­Höhe von 42,3 Milliarden US-Dollar. Zum ­Vergleich: Die größte deutsche Pensions­einrichtung, die ­Bayerische Versorgungskammer, belegt mit umgerechnet rund 71,7 Milliarden US-Dollar weltweit Platz 37. Was nun aber die Chilenen ­betrifft, nimmt der zweitgrößte Pensions-­Administrator des Landes, AFP Habitat, Rang 87 ein. Diese ­Kapitalsammelstelle verfügt über ­eine Anlage­volumen von immerhin 40,2 Milliarden US-Dollar. Dicht auf den ­Fersen folgen AFP Cuprum (Rang 116, 32,7 Milliarden US-Dollar) und AFP Capital (Rang 124, 30,4 Milliarden US-Dollar). ­Ähnlich hohe ­Pension ­Assets angehäuft haben der Logistiker Fed Ex oder der ­Öl-Multi BP.

Ungemütlicher Freiraum
Doch zurück zu den eigentlichen Protagonisten dieser Geschichte,­ die auf die Expertise der angesehenen „Top 300“ vertrauen: den Leistungs­empfängern. Wechselwillige chilenische Rentensparer ­haben die Möglichkeit, ihren Anbieter nach zwei Jahren gegen einen anderen austauschen, etwa, weil sie sich dort besser umsorgt fühlen. Außerdem können die Rentner der Zukunft in der Ansparphase aus fünf Investmentfonds wählen; die Fonds unterscheiden sich durch ­ihre ­Anlagegrenzen bei einzelnen Asset-Klassen und sind demnach unterschiedlich risikoreich. Aufgrund der Anlagevielfalt scheinen nicht ­wenige mit dieser Aufgabe überfordert zu sein. Manuel Garcia-Huitron und Michail van Leuvensteijn weisen darauf hin, dass viele Chilenen einem prozyklischen Verhalten unterliegen. Sie verkauften ihre Anlagen „billig“ und kauften „teuer“.
Vor diesem Hintergrund wird nun der Vorschlag debattiert, die Zahl der Investmentfonds zu senken. So sollen die riskanteste und die risikoärmste Anlage ­eliminiert werden, um die Anlageentscheidung zu vereinfachen. ­Erschwerend hinzu kommt, dass die chilenischen Pensionsfonds-­Administratoren profitorientiert arbeiten. Anders als in Deutschland haben es die dortigen Rentner in jedem Fall mit der freien Wirtschaft zu tun. Und profitorientierte Anbieter verlangen nun einmal Gebühren, die die monatlichen Rentenbeiträge unmittelbar schmälern. Mit anderen Worten „reduzieren die Gebühren nicht die Höhe der ­späteren Rente, sondern sie reduzieren den Konsum in der Gegenwart“, wie Manuel Garcia-Huitron und Michail van Leuvensteijn es treffend formulieren. Die durchschnittliche Gebühr für die Verwaltung der Pensionsgelder beziffern sie auf 1,16 Prozent gemessen am Gehalt, aus dem sich die Rente ableitet. Bezogen auf das Vermögen entspreche das einem Äquivalent von 60 Basispunkten.
­Garcia-Huitron und van Leuvensteijn kommen letztlich zu der Erkenntnis, dass der freie Markt bei der Bereitstellung von ­Pensionsdienstleistungen nicht unbedingt die beste Wahl sei. ­Damit bereichern sie eine in diesen ­Tagen in den Niederlanden ­laufende ­Debatte und richten sich gegen die Idee, auch unter den ­dortigen ­Pensions-Administratoren eine Art Wettbewerb anzuregen: „Wenn tatsächlich Wettbewerb in den ­Niederlanden eingeführt ­werden sollte, dann sollte eine smarte ­Ausgestaltung angestrebt werden, um enttäuschende Ergebnisse zu vermeiden.“ Ihre Kritik fußt auf einer ­weiteren Erfahrung, die die ­chilenischen Rentner langfristig teuer ­bezahlen werden: Die freie Auswahl von Investmentprodukten könne für den Einzelnen stressig und „sehr schwierig“ sein.

Festzuhalten bleibt, dass viele Rentensparer mit „Investment­risiken“ nichts anfangen können und daher von ihnen abgeschirmt werden wollen. Dazu passt ein aktuelles Umfrageergebnis: 61 Prozent der Chilenen wollen ganz zum solidarischen Umlageverfahren und damit gewissermaßen zu den Wurzeln staatlicher Rentensysteme zurückkehren. Darüber sollte man nachdenken, auch bei der Diskussion­ über die Zukunft des Rentensystems in der Bundesrepublik.

Von Tobias Bürger

portfolio institutionell, Ausgabe 09/2016

Autoren:

In Verbindung stehende Artikel:

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert